Die acht goldenen Regeln der EU-Chemikalienpolitik – oder: Wie ein politisches System perfekt gelähmt werden kann

Verbände 07. 10. 2025

Ein Einwurf von Dr. Malte Zimmer, ZVO-Resort Umwelt & Chemikalienpolitik, Hilden

Prof. Dr. Peter Kruse [1], Psychologe, Unternehmensberater und Vordenker komplexer Systeme, formulierte einst in Vorträgen [2] die8 Regeln des Scheiterns [3] – eine satirische Gebrauchsanleitung dafür, wie Organisationen garantiert lahmgelegt werden. Was als pointierte Analyse innerbetrieblicher Absurditäten gedacht war, entfaltet im politischen Raum eine ungeahnte Tiefenwirkung.

Denn nirgendwo lassen sich diese Regeln so präzise beobachten wie in der europäischen Chemikalienpolitik. Hier wird mit beeindruckender Konsequenz entschieden, ohne zu klären, diskutiert, ohne zuzuhören – und organisiert, dass maximale Verwirrung entsteht.

Was folgt, ist keine Polemik, sondern eine logische Fortschreibung von Kruses Prinzipien auf ein Politikfeld, das unter der Last seiner eigenen Ambitionen zusammenzubrechen droht – satirisch zugespitzt, aber leider näher an der Realität, als es uns lieb sein kann.

1 Entscheidungen treffen,
aber nicht umsetzen

Ein Klassiker in der EU-Chemikalienpolitik: Entscheidungen werden mit großem Tamtam gefasst – aber die Umsetzung wird zur unendlichen Geschichte. Denn nach dem Beschluss beginnt das Spiel mit der heißen Kartoffel: Wer ist jetzt eigentlich verantwortlich?

Kommission und Mitgliedstaaten liefern sich hier ein perfektes Ping-Pong der Passivität:

  • Die Kommission sagt: Wir haben doch klare Vorschläge gemacht – aber die Mitgliedstaaten blockieren im Ausschuss!
  • Die Mitgliedstaaten kontern: Wir würden ja zustimmen – wenn die Kommission nicht ständig unausgereifte Entwürfe liefern würde!

Ergebnis: Alle haben recht. Und niemand macht etwas. Dieser institutionalisierte Stillstand hat System. Denn:

  • Ein nicht umgesetzter Beschluss vermeidet juristische Angreifbarkeit; implizit realisiert ihn dann gern einmal eine Guideline.
  • Eine verzögerte Umsetzung kann immer auf fehlende Einstimmigkeit oder laufende technische Klärung geschoben werden. Die Drohung allein führt zu Reaktionen in der Wirtschaft, im Markt.
  • Und wenn es doch zur Eskalation kommt, war es natürlich die andere Seite, die sich nicht bewegt hat.

Die Debatte wird dabei mit beachtlicher Professionalität geführt: In Ausschüssen, Arbeits­gruppen und Berichterstatter-Runden wird monatelang verstanden, abgewogen, bedauert, bewertet – und schließlich: nichts getan, sondern in neuen Gremien weiter debattiert, in weiteren Meetings – man kennt sich.

Und wenn doch? Dann prüfen wir besser nicht das Ergebnis – es könnte zum wirklichem Handeln zwingen. Es ist doch bekannt, dass es funktioniert. Wir müssen unseren Experten doch glauben.

2 Informelle Kommunikation
bevorzugen

In der EU-Chemikalienpolitik findet die eigentliche Diskussion dort statt, wo sie nicht protokolliert werden muss. Während Unternehmen sich durch offizielle Konsultationsverfahren quälen und Stellungnahmen mit Fußnoten belegen, reicht bei NGOs oft ein Kaffeetermin im richtigen Referat. Kommission und Zivilgesellschaft – ein informelles Dreamteam: Workshops, Side-Events,vertrauensvolle Dialogformate persönlich und online, Experten mit der richtigen Agenda – niemand weiß genau, was besprochen wurde – die Teilnehmer kennen sich ja! Da wird Meinung gemacht. Kein offizieller Beschluss, aber ein starkes Signal. Kein Mandat, aber moralische Überlegenheit.

Das schafft ein Kommunikationsklima, in dem Positionen weniger durch Fakten als durch Dringlichkeit, Rhetorik und Gerüchte ­gewinnen:

  • Die Wissenschaft ist eindeutig! – auch wenn es gerade um politische Bewertungen geht.
  • Die Industrie blockiert wieder! – auch wenn der Vorschlag technisch nicht umsetzbar ist.
  • Wir müssen jetzt reagieren! – egal ob bekannt ist, worauf eigentlich.
  • Ich glaube, daran wird bereits gearbeitet – sofort fühlt sich jeder betroffen.

So entsteht eine Parallelöffentlichkeit jenseits der offiziellen Verfahren: Formal bleibt alles korrekt, faktisch aber sind viele Debatten längst vorentschieden – nicht durch Expertise, sondern durch Emotionalisierung und Nähe zu den richtigen ­Entscheidungsträgern. Einige Informationen werden geleakt, die wirklichen Vor-Absprachen bleiben verborgen. Wie sonst könnte ECHA bei einer öffentlichen Konsultation die AussageDer frühe Vogel fängt den Wurm! Verbreiten? Wer früh kommentieren kann, war detailliert vorbereitet – q. e. d.: Sorgfältige Ausarbeitung ist irrelevant, Positionen stehen bereits fest.

Und das Beste: Diese informellen Kanäle sind immun gegen Kritik. Denn wer sie hinterfragt, ist gleich gegen Transparenz, gegen den Umwelt- und Gesundheitsschutz – oder, vollkommen widersinnig, ein schlimmer Lobbyist.

3 Operative Hektik erzeugen

Stillstand durch Aktionismus – das ist die wahre Kunst der europäischen Chemikalien­politik. Kaum ist eine Strategie angekündigt, folgt schon die nächste Initiative, Taskforce oder Evaluierung. Besonders beliebt bei Kommission und Umweltministerien: neue Schlagworte ohne Substanz, aber mit maximalem PR-Wert:

  • Green Innovation, Safe and Sustainable by Design, Digitalisierung der Regulierung – klingt alles visionär, meint aber meist: neue Excel-Tabellen, zusätzliche Berichtspflichten und eine weitere Arbeitsgruppe, die noch keine konkrete Aufgabe hat, aber schon regelmäßig zu einem neuen Problem tagt – vorzugsweise online, wer verlässt schon gern das Haus in die Realität?
  • Transparenzoffensiven bringen mehr Daten, aber weniger Klarheit. Denn wenn jeder Akteur seine eigene Plattform aufsetzt und seine eigenen Indikatoren definiert, entsteht kein Überblick, sondern ein Datenfriedhof.
  • Roadmaps, Strategies und Action Plans werden im Halbjahrestakt neu ­erfunden, ohne vorher zu prüfen, ob die alten überhaupt Wirkung zeigten. Es geht nicht um Wirkung, sondern um Sichtbarkeit – Hauptsache, die Akteure können beim nächsten Ministertreffen betonen: Wir sind aktiv.

So entsteht eine Kakophonie aus Themen, Papieren und Projekten, die weder priorisiert noch konsolidiert werden. Überforderung ist dabei kein Nebeneffekt, sondern Ziel: Wer genug beschäftigt ist, stellt keine Fragen – schon gar nicht die unangenehmen.

4 Interne Konkurrenz anheizen

Wer braucht schon Zusammenarbeit, wenn auch Gegeneinander organisiert werden kann – um selbstsicher im Sattel zu bleiben? In der europäischen Chemikalienpolitik ist interne Konkurrenz nicht das Problem – dasjeder gegen jeden ist Systembestandteil.

Statt gemeinsam realistische Ziele zu verfolgen, wird mit großer Intensität gegeneinander gearbeitet:

  • Die Kommission pocht auf Durchgriff, die Mitgliedstaaten auf nationale ­Souveränität. Ergebnis: Institutioneller Schaukampf mit maximaler Reibung und minimaler Wirkung.
  • Die Umweltbehörden wollen Schutz der Gesundheit – koste es, was es wolle –, die Wirtschaftsministerien verlangen Wettbewerbsfähigkeit als Voraussetzung für Handlungsfähigkeit.
  • Dauerhafte Grabenkämpfe zwischen NGOs und wechselnden Teilen der Industrie, in denen auf der einen Seite objektive Fakten oft zweitrangig sind – Hauptsache, die moralisch überlegene Position ringt mit dem technisch Machbaren – und beide sprechen konsequent aneinander vorbei. So kann die Kommission nach Bedarf instrumentalisieren.
  • Forscher mahnen Risiken an, Politiker alarmieren vor Gefahren – und am Ende hat keiner die Entscheidungskompetenz, aber alle haben ein gutes Gefühl. Und die EU-Gremien können frei auswählen, nach eigenem Gusto interpretieren und weitreichend extrapolieren.
  • Mitarbeiter in Behörden erhalten Zeitverträge (z. B. contract agents). So kämpft jeder gegen jeden und niemand gegen die Vorgaben von oben. Streng nach dem Motto: Wes Brot ich ess, ….

Und dann gibt’s noch den innereuropäischen Wettbewerb: Wer ist beim Regulieren willfährig und moralisch gesichert – und wer sucht verzweifelt nach Lösungen, die Regulierungswut wirtschaftlich zu überleben? So entstehen nicht etwa Synergien, sondern immer neue taktische Allianzen, Blockaden und Verzögerungen.

Das Ergebnis ist diskursive Dauerrotation – die gezielte Selbstlähmung.

5 Schuldige suchen

Die Realität der Chemikalienpolitik ist ein Labyrinth aus Halbwissen, halboffenen Lieferketten und einem Flickenteppich aus überlappenden Zuständigkeiten. Wer verwendet welche Chemikalie, in welchem Produkt, in welchem Land, über welchen Zulieferer, welche Regularie greift? Niemand weiß es genau (und es ändert sich auch noch!) – aber wenn etwas schiefläuft, wissen plötzlich alle: Die anderen sind schuld.

Anstatt die Komplexität anzuerkennen und Strukturen zu schaffen, die Transparenz ermöglichen, wird der Nebel politisch genutzt. In der Praxis sieht das so aus:

  • Lieferkette undurchsichtig? Dann sind wohl die Unternehmer zu lax und verantwortungslos. Neue Pflichten werden kreiert.
  • Nanogramm-Rückstände von schädlichen Substanzen (welche können das nicht sein?)? Sieht aus wie Milligramm, also Lebensgefahr durch die menschenverachtende Industrie! Dazwischen liegen im übrigen sechs Zehnerpotenzen, für diejenigen, denen das nicht bewusst sein sollten - zum einen. Zum anderen ist unter bestimmten Mengen von Stoffen die Festlegung von Risiken kaum mehr sinnvoll möglich! Schon Paracelsus war vor 500 Jahren zu Recht davon überzeugt, dass fast jeder Stoff oberhalb bestimmter Grenzen problematisch für die Gesundheit des Menschen wird.
  • Regelung greift nicht? Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Dann eben mehr Kontrolle, mehr Berichtspflichten der verantwortlichen nachgeordneten Kontrollbehörden und Betroffenen.
  • EU-Vorgaben widersprüchlich? Dann sind die Mitgliedstaaten unwillig und die Industrie rückwärtsgewandt und gegen die Transformation.

Jeder zeigt auf jeden, während sich die Probleme im Kreis drehen – und am Ende bleibt alles beim Alten – es gibt nur mehr Bearbeiter, denn das selbst erschaffene Problem benötigt mehr Problemverwalter!

Klarheit wäre gefährlich, denn dann müsste jemand Verantwortung übernehmen. Viel sicherer ist es, das Chaos zu kultivieren. Immer wechselnde Schuldige zu finden erklärt, warum nie erreicht wird, was versprochen wurde.

6 Regeln nicht hinterfragen

Die EU liebt neue Konzepte mit alten Fehlern: Diese wirken fortschrittlich, beruhen jedoch auf Wunschdenken und bürokratischem Beharrungsvermögen. Besonders deutlich wird das beim Prinzip desEssential Use. Klingt doch gut! Nur noch zulassen, was wirklich gebraucht wird!

Doch was ist eigentlich essentiell? Eine Stoff­eigenschaft ist es nicht. Auch keine objektive Kategorie. Essentiell ist eine Momentaufnahme – abhängig von Kultur, Zeitgeist, politischer Stimmung und weltrettenden Lobbygruppen – wobei letztere gern mal fern jeder Praxis agieren. Ansichtssache aus der persönlichen Situation heraus.

Was heute als verzichtbar gilt, könnte morgen die Lösung eines globalen Problems sein.

Beispiele gefällig?

  • Silizium: Früher ein unscheinbares Halbmetall ohne großes Anwendungsfeld, hätte als Verursacher von Silikose verbannt gehört – heute ist es das Herz jeder Mikroelektronik und damit Grundlage der digitalen Welt.
  • Teflon (PTFE): Jahrzehntelang als Labornebenprodukt belächelt – heute aus erneuerbaren Energien, Dichtungen und Medizintechnik nicht mehr wegzudenken. Aber unerwarteterweise langlebig – muss also irgendwann irgendwie zum Risiko werden, oder?
  • Lithiumverbindungen: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wenig gefragt und hätten problemlos wegen ihrer gesundheitsschädlichen Eigenschaften als nicht-essentiell verboten werden können – heute sind sie jedoch essenziel für Batterien, Energiespeicherung und Elektromobilität.
  • Graphen: Lange ein rein akademisches Kuriosum – heute Hoffnungsträger für neue Materialien, Elektronik und Medizin. Zum Glück nimmt sich die EU über REACh seiner Regulierung als Nanomaterial bereits an – der Stoff ist ja (noch) nicht essentiell.

Wer also entscheidet, was wir für die Zukunft brauchen – und was nicht? Die Politik? Behörden? Eine tagesaktuelle Meinungsmehrheit? Oder vielleicht die ach so unabhängi­gen, selbstlosen, wertschöpfungsfernen NGOs?

Essential Use bedeutet, im Jetzt über die Zukunft zu urteilen – mit begrenztem Wissen und der gefährlichen Hybris, entscheiden zu können, was wir in Zukunft nicht brauchen werden. Das hat mit nachhaltiger Politik so viel zu tun wie Horoskope mit Quantenphysik.

7 Schnelles Commitment erzwingen

Alle für nachhaltige Chemikalienpolitik? – Ja klar! – Hände hoch, Pressemitteilung raus, weiter zur nächsten Sitzung. Die EU ist Weltmeisterin im Verkünden großer Pläne: Chemicals Strategy for Sustainability? Klingt super! Zero Pollution Action Plan? Fantastisch! Green Deal-Integration in die Chemikalienregulierung? Ein echter Meilenstein – auf welchem Weg bleibt unklar.

Dass kaum jemand versteht, wie diese Pläne ineinandergreifen sollen, was sie konkret verändern – oder wer was wann umsetzen soll –, spielt keine Rolle. Das wird informell, bilateral, auf jeden Fall jenseits öffentlicher Wahrnehmung geklärt. So wird alles versteckt wieder in Frage gestellt. Hauptsache, es gibt ein für jeden sichtbares Commitment. So kann später jeder sagen: Wir waren dabei, wir waren dafür! Oft Wir waren dafür, dagegen zu sein! Absichtserklärungen als Alibi, Partikular­interessen hinter verschlossenen Türen; Kollateralschäden tragen andere – die, die nicht zum inneren Kreis gehören.

8 Diskutieren bis zur
Verantwortungslosigkeit

In der EU-Chemikalienpolitik gilt: Wer entscheidet, ist nicht von Bedeutung – Hauptsache, alle dürfen erstmal mitreden! Expertengruppen, Lenkungsausschüsse, Ad-hoc-Taskforces, nationale Gremien, Industrieverbände, zivilgesellschaftliche Panels – und am Ende noch eineöffentliche Konsultation, damit es demokratisch aussieht.

Jedes Gremium bildet sich eine Meinung, aber niemand aus dem großen Kreis der Entscheidungsträger fühlt sich verantwortlich, sie zusammenzuführen. Woran das liegt? Vielleicht, weil Einigkeit ein Ergebnis wäre – und Ergebnisse müssten ja umgesetzt werden. Lieber also das Diskurskarussell in Foren und Workshops feiern und die Umsetzung unspezifiziert delegieren. An das ­nächste Gremium. Kollege kommt gleich. Und der kann willkürlich agieren.

Fazit

Was als ambitionierte Politik zum Schutz von Umwelt, Gesundheit und Innovation begann, gleicht heute einem gesichtslosen Regelwerk der institutionellen Selbstlähmung. Die EU-Chemikalienpolitik hat sich hinter einem Netz aus Verfahren, Zuständigkeiten, Schlagwörtern und gegenseitigen Schuldzuweisungen verschanzt – und befolgt dabei, ob bewusst oder nicht, exakt die Mechanismen, die Prof. Peter Kruse einst als8 Regeln des totalen Stillstands beschrieben hat. Und das mit dem selbstgewählten Gefühl, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen – auch wenn faktisch vieles dagegen spricht.

Die Herausforderung ist nicht der Mangel an Wissen oder Willen – sondern der strukturelle Widerspruch zwischen Ambition und Handlung. Wer wirklich etwas ändern will, muss den Mut haben, nicht nur ­Konzepte zu verkünden, sondern Verantwortung zu übernehmen und seine Überzeugungen und Maßnahmen am wahren Leben zu messen. Und die Geduld, Komplexität zu ordnen – statt sie zu verwalten und willkürlich zu simplifizieren.

Oder wie Kruse möglicherweise gesagt hätte: Politische Systeme versagen nicht aus Unwissen – sie perfektionieren das Verdrängen von allem, was unbequem ist.

Literatur

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Kruse?utm_source=chatgpt.com

[2] https://www.youtube.com/watch?v=4f_mIRrns2U

[3] https://www.teamworkblog.de/2023/04/rebellieren-fur-den-wandel-die-8-regeln.html

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