Individualisierte Fingergelenksimplantate aus dem 3D-Drucker

Medizintechnik 06. 03. 2023
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Vom Röntgenbild zum maßgeschneiderten Implantat

Die Remobilisierung von Fingergelenken, die durch Erkrankungen oder Verletzungen beeinträchtigt sind, ist ein Zukunftsmarkt der bedarfsgerechten Versorgung von Patientinnen und Patienten. Das Konsortium FingerKIt, in dem sich fünf Fraunhofer-Institute zusammengeschlossen haben, entwickelt KI-erstellte, individualisierte Gelenksimplantate aus dem 3D-Drucker, um die filigranen Fingerteile, wenn nötig, zu ersetzen.

Ob durch einen Unfall beim Sport oder die Krankheit rheumatoide Arthritis: Wenn Fingergelenke unbeweglich werden, ist das eine gravierende Einschränkung und physische und psychische Belastung – für ­bestimmte Berufsgruppen wie Musiker, Chirurgen oder Handwerker bedeutet es oft sogar das Karriereende. In Zukunft könnte eine Entwicklung der Fraunhofer-Einrichtung für Additive Produktionstechnologien IAPT, des Fraunhofer-Instituts für Keramische Technologien und Systeme IKTS, des Fraunhofer-Instituts für Toxikologie und Experimentelle Medizin ITEM, des Fraunhofer-Instituts für Werkstoffmechanik IWM und des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medizin MEVIS dazu beitragen, dass Finger mit zerstörten oder geschädigten Gelenken ihre Beweglichkeit zurückerlangen.

Bisherige Therapie ­geschädigter Fingergelenke

Verliert heute ein Fingergelenk durch Unfall oder Erkrankung seine Funktion, so sind die Behandlungsmethoden eingeschränkt: Meist wird eine Versteifung durchgeführt, was Patientinnen und Patienten in ihrem Alltag aber stark beeinträchtigt. Soll ein Implantat gesetzt werden, gibt es auf dem Markt derzeit zwei Optionen: Silikonimplantate, die sich in vielen Fällen schnell wieder lösen und durch einen erneuten Eingriff revidiert werden müssen, oder einfach gearbeitete Standardimplantate, die lediglich in bestimmten Größenstufen angeboten werden und nicht alle Bewegungen ermöglichen. Eine passgenaue Lösung, die nicht verrutscht und die vorherige Beweglichkeit wiederherstellt – also ein individualisiertes Implantat – sollte daher das Ziel der optimalen Versorgung von Patientinnen und Patienten sein.

Projekt FingerKIt

Im Projekt FingerKIt haben fünf Fraunhofer-Institute nun ein Konzept entwickelt, mit dem das gelingen könnte: In einer automatisierten Prozesskette sollen individualisierte Fingergelenksimplantate aus metallischen oder keramischen Werkstoffen schnell, sicher und zertifiziert hergestellt werden. Dafür entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Fraunhofer MEVIS zunächst eine KI-gestützte Software, die in der Lage ist, aus zweidimensionalen Röntgenaufnahmen dreidimensionale Modelle der Fingerknochen zu errechnen und eine potenzielle Fehlstellung der Finger zu korrigieren. Anschließend leiten Forschende des Fraunhofer IAPT das individuelle Implantatdesign anhand einer KI aus dem Fingermodell ab und setzen es im 3D-Druck um. Nachdem es gilt, sehr feine und filigrane Strukturen abzubilden, arbeiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei der Fertigung mit Metall-Binder-Jetting, dem schichtweisen Aufbau der Teile, die in einem nachfolgenden Schritt gesintert, das heißt verdichtet und ­gefestigt werden. Am Fraunhofer IKTS erfolgt die Fertigung der Implantate im Near-Net-Shape-Manufacturing – ebenfalls ein Fertigungsverfahren, mit dem Produkte möglichst nahe der gewünschten Endkontur entstehen, sodass nur wenige Nachbesserungen erforderlich sind. Auch keramische Materialien kommen dank der Expertise des Fraunhofer IKTS zum Einsatz. Diese werden im Schlickerguss – einem speziellen Gipsform-Gussverfahren – verarbeitet. Um die Fragestellungen zur biologischen Verträglichkeit und Zertifizierung der Implantate kümmert sich das Fraunhofer ITEM, um die Simulation der mechanischen Belastungen das Fraunhofer IWM.

Während der Arbeit im Projekt haben die Forschenden mehrere Innovationen entwickelt: Die KI-basierte Berechnung eines dreidimensionalen Implantatdesigns aus 2D-Vorlagen wie Röntgenbildern ist laut Dr. Arthur Seibel aus dem Bereich Bauteil-Design am Fraunhofer IAPT, völlig neuartig und inzwischen zum Patent angemeldet. Nach Aussage von seinem Kollegen Dr. Philipp Imgrund, Abteilungsleiter Prozessqualifizierung am Fraunhofer IAPT, ist auch die Prozesstechnik etwas Besonderes: Weil die Struktur des Implantatschafts sehr filigran ist, haben wir als 3D-Druck-Verfahren das Metall-Binder-Jetting für Titan eingesetzt.Das Verfahren ermögliche die sehr präzise Fertigung der kleinen, komplexen Implantate und erlaube es gleichzeitig, die Oberfläche des Schafts so zu strukturieren, dass dieser besser in den Knochen einwachse. Weiterhin können wir so die Nachbearbeitung der Gelenkflächen minimieren, die möglichst glatt und reibungsarm sein müssen, so Dr. Philipp Imgrund.

Ein neuer Standard für die Versorgung?

Die Ergebnisse des Projekts FingerKIt sind eine gute Nachricht für alle Patientinnen und Patienten, denen bisher nicht zufriedenstellend geholfen werden konnte. Durch die Fraunhofer-Innovationen könnten in Zukunft auch komplizierte Fälle – stark gekrümmte Finger, fehlende Knochenteile oder sehr kleine Gelenke – sehr gut behandelt werden.

Die Individualanfertigung ist dank automatisierter Modellerstellung und 3D-Drucks zudem zeitsparend: Ersten Berechnungen der Forschenden zufolge wäre es möglich, bis zu 60 Prozent der üblicherweise ­benötigten Zeit von der Feststellung des Bedarfs bis zum Einsetzen eines Implantats einzusparen. Eine Versorgung ist so innerhalb von wenigen Tagen vorstellbar, was durch kürzere Liegezeiten auch geringere Kosten in Krankenhäusern verursachen würde. Ein weiterer Vorteil: Durch die dem Originalgelenk nachempfundene Konstruktion würde eine im Vergleich zu bisherigen Lösungen deutlich verbesserte Beweglichkeit erreicht. Mit FingerKIt könnte sich nach den Worten von Dr. Philipp Imgrund die Behandlung etwa der rheumatoiden Arthritis völlig verändern: Die Versorgung mit einem individualisierten Implantat könnte zum Goldstandard werden.

Wachstumsmarkt ­Fingergelenksimplantate

Laut Deutscher Gesellschaft für Rheumatologie leiden rund zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland an entzündlich-rheumatischen Erkrankungen und die meisten von ihnen möchten auch im fortgeschrittenen Alter nicht auf eine gute Lebensqualität verzichten. Interessant ist die Neuentwicklung auch für Patientinnen und Patienten, die durch Verletzungen beeinträchtigt sind. Im Vergleich etwa zu Fuß- oder Sprunggelenksimplantaten ist der Markt für die Remobilisierung von Fingergelenken noch deutlich unterentwickelt. Die Experten schätzen, dass das Gesamtpotenzial im Jahr 2026 bei 5,8 Millionen Euro liegt.

Technologisch ist die Entwicklung ­innerhalb von FingerKIt inzwischen so weit fortgeschritten, dass das Produkt gemeinsam mit einem Partner aus der Medizintechnik zur Markt­reife gebracht werden könnte: Die KI-basierte Design-Erstellung und die Fertigung funktionieren; es existieren bereits ausstellungsreife Implantate. Im nächsten Schritt soll der Weg zur Zulassung beschritten werden. Derzeit sind die Forschenden auf der Suche nach Unternehmenspartnern, die mit ihrem Know-how helfen können, die KI-erstellten Medizinprodukte auf den Markt zu bringen.

(© Fraunhofer IAPT)

Text zum Titelbild: Die in speziellen 3D-Druck-Verfahren gefertigten FingerKIt-Implantate ermöglichen hohe Detailgenauigkeit und unterschiedliche Oberflächenqualitäten (© Fraunhofer IAPT)

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