Ein scheinbar paradoxer Effekt: Reibung richtet normalerweise bei höheren Geschwindigkeiten mehr Schaden an. Aber bei sehr hohen Geschwindigkeiten kehrt sich das um. Dieses überraschende und scheinbar widersinnige Ergebnis konnten der Forschungsbereich Tribologie an der TU Wien und das Exzellenzzentrum für Tribologie AC2T research GmbH in der Wiener Neustadt in Zusammenarbeit mit dem Imperial College, London, nun mit Hilfe von Computersimulationen erklären.
Wenn zwei Metalloberflächen gegeneinander gleiten, kommt es zu einer Vielzahl von komplizierten Phänomenen, die zu Reibung und Verschleiß führen: Kleine kristalline Bereiche, aus denen Metalle typischerweise aufgebaut sind, können verformt, verdreht oder zerbrochen werden, oder auch miteinander verschmelzen. Für die Industrie ist es wichtig, solche Effekte zu verstehen. Verschleiß kann schließlich Maschinen zerstören und eine Menge Geld kosten.
Normalerweise ist der Verschleiß umso größer, je schneller die beiden Oberflächen aneinander vorbeigleiten. Doch bei extrem hohen Geschwindigkeiten, etwa in der Größenordnung der Mündungsgeschwindigkeit von einer Schusswaffe, kann sich das umkehren: Oberhalb einer bestimmten Geschwindigkeit nimmt der Verschleiß wieder ab. Dieses überraschende und scheinbar widersinnige Ergebnis konnten der Forschungsbereich Tribologie an der TU Wien und das Exzellenzzentrum für Tribologie AC2T research GmbH in Wiener Neustadt in Zusammenarbeit mit dem Imperial College in London nun mit Hilfe von Computersimulationen erklären.
Simulationen auf Hochleistungscomputern
Früher konnte man Reibung und Verschleiß nach den Worten von Stefan Eder, TU Wien, AC2T research GmbH, nur in Experimenten untersuchen. Erst in den letzten Jahren sind Supercomputer so leistungsfähig geworden, dass wir die hochkomplexen Prozesse an der Materialoberfläche auch auf atomarer Skala berechnen können.
Stefan Eder und sein Team bilden am Computer verschiedene Metalllegierungen nach – und zwar keine perfekten Einkristalle, mit einer streng regelmäßigen und fehlerfreien Anordnung von Atomen, sondern eine Legierung, die der Realität deutlich näher kommt: eine geometrisch komplizierte Anordnung winziger Kristalle, die gegeneinander versetzt oder in verschiedene Richtungen verdreht sein können und sich so als Materialfehler manifestieren. Das ist Eder zufolge wichtig, denn all diese Fehler hätten einen ganz entscheidenden Einfluss auf Reibung und Verschleiß. Würden wir am Computer ein perfektes Metall simulieren, hätte das Ergebnis mit der Wirklichkeit wenig zu tun.
Überraschende Ergebnisse
Das Forschungsteam berechnete, wie sich die Reibungsgeschwindigkeit auf den Verschleiß auswirkt: Bei vergleichsweise kleinen Geschwindigkeiten, in der Größenordnung von zehn oder 20 Metern pro Sekunde, sei der Verschleiß gering, so Stefan Eder. Nur die äußersten Schichten veränderten sich, die Kristallstrukturen darunter blieben im Großen und Ganzen intakt.
Wenn man die Geschwindigkeit auf 80 bis 100 Meter pro Sekunde erhöht, nimmt der Verschleiß zu – das ist zu erwarten, schließlich wird dann auch mehr Energie je Zeiteinheit in das Metall übertragen. Man kommt dann allmählich in einen Bereich, in dem sich das Metall verhält wie eine zähe Flüssigkeit, ähnlich wie Honig oder Erdnussbutter, sagt Eder. Tiefere Schichten des Metalls werden in die Richtung der vorübergleitenden Oberfläche mitgezogen, die Mikrostruktur im Metall wird völlig durcheinandergebracht. Die einzelnen Körnchen, aus denen das Material besteht, werden verdreht, zerbrochen, ineinandergeschoben und schließlich in die Länge gezogen.
Eine Überraschung erlebte das Team allerdings, als man dann zu noch höheren Geschwindigkeiten überging: Ab etwa 300 Metern pro Sekunde – das entspricht ungefähr der Höchstgeschwindigkeit von Flugzeugen in der zivilen Luftfahrt – wird der Verschleiß wieder geringer. Die Mikrostruktur des Metalls knapp unter der Oberfläche, die bei mittleren Geschwindigkeiten völlig zerstört wird, bleibt nun wieder zum Großteil intakt.
Das war für uns und für die Tribologie-Community verblüffend, sagt Stefan Eder. Doch Literaturrecherchen zeigten den Forschenden, dass dieser Effekt auch schon von anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in Experimenten beobachtet worden ist. Er sei nur nicht sehr bekannt, weil derart hohe Geschwindigkeiten selten vorkämen. Seine Herkunft wurde jedenfalls bisher nicht geklärt, sagt Eder.
Punktweises Aufschmelzen der Oberfläche schützt tiefere Schichten
Genauere Analysen der Computerdaten gaben nun Aufschluss darüber, wie dieser Effekt möglich wird: Bei extrem hohen Geschwindigkeiten erzeugt die Reibung viel Wärme – allerdings auf sehr ungleichmäßige Weise. Lediglich einzelne Punkte auf den Oberflächen der beiden aneinanderreibenden Metalle sind in Kontakt, und diese Punkte können tausende Grad Celsius erreichen. Dazwischen ist die Temperatur viel niedriger.
Das führt dazu, dass kleine Teile der Oberfläche aufschmelzen und Sekundenbruchteile danach wieder auskristallisieren können. Die alleräußerste Schicht des Metalls wird also dramatisch verändert, doch genau dadurch werden die tieferliegenden Bereiche des Materials geschützt: Nur die äußersten Materiallagen spüren den Verschleiß, die kristallinen Strukturen darunter verändern sich nur leicht.
Dieser bisher kaum diskutierte Effekt tritt nach Aussage von Eder bei unterschiedlichen Materialien auf. Überall, wo es zu Reibung mit hoher bis extrem hoher Geschwindigkeit kommt, wird man das in Zukunft unbedingt berücksichtigen müssen, so Eder. Das trifft etwa auf moderne, besonders hochdrehende Lager und Getriebe in der Elektromobilität zu, oder auf Maschinen, die Oberflächen schleifen. Aber auch für die Stabilität von Metallen bei einem Fahrzeugcrash oder beim Aufprall von kleinen Partikeln auf Hochgeschwindigkeitsflugzeuge spielt der nun besser verstandene Effekt eine Rolle.Florian Aigner
Originalpublikation:
S. Eder et al.: Does speed kill or make friction better? – Designing materials for high velocity sliding; Applied Materials Today, 29 (2022), 101588; https://doi.org/10.1016/
j.apmt.2022.101588
Kontakt:
Dr. Stefan Eder, Institut für Konstruktionswissenschaften und Produktentwicklung, TU Wien,
E-Mail: stefan.j.eder@tuwien.ac.at
- www.tuwien.at