Das grundsätzliche Problem der Optimierung
Die aktuellen Krisensituationen machen deutlich, dass die in den letzten Jahren verstärkt stattgefundene Verlagerung von Produktionstechniken im Zuge der Globalisierung schnell zu erheblichen Nachteile führen kann. Dies wirkt sich vor allem auch dadurch aus, dass viele Produkte nur deshalb für eine breite Masse erschwinglich sind, weil für die Herstellung die weltweit kostengünstigsten Unternehmensstandorte sowie der Trend zur Massenfertigung stark vorangetrieben wurden. Daraus folgt aktuell eine umfassende Prüfung der Vor- und Nachteile der entstandenen Produktionsweisen und sinnvollerweise ein korrigierender Eingriff zur Stärkung neuer Vorgehensweisen bei der Entwicklung effizienter Abläufe. Neue Arten der Kooperation könnten ein interessanter Lösungsansatz sein.
Man kann es gut finden oder auch nicht. Kaum zu bestreiten ist jedoch, dass die stärkere Spezialisierung von Unternehmen im Zuge einer immer globaleren Wirtschaft mit komplexeren Lieferketten ein Erfolgsmodell ist. Wenn Unternehmen sich auf das konzentrieren, was sie am besten können und in großen Mengen produzieren, steigt die Expertise und sinken die Kosten. Die Welt wächst zusammen und das hat hauptsächlich wirtschaftliche Vorteile: nicht nur für die Produzenten und Verkäufer, sondern auch für alle, die dadurch gute Qualität zu günstigen Konditionen kaufen können.
Das Erfolgsmodell hat bekanntermaßen in der letzten Zeit ein paar Risse bekommen. Erst die weltweite Corona-Pandemie, nun der Ukraine-Krieg. Dabei ist der grundlegende Zusammenhang zwischen der bislang so erfolgreichen Globalisierung und seiner Empfindlichkeit gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen eigentlich recht einfach und zwingend. Für jemanden, der auf einem Berggipfel steht, kann es bei jeder Bewegung nur bergab gehen. Je steiler der Berg, je größer der Höhengewinn beim Aufstieg, desto schneller führt ein kleiner Schubs auch schon in die Tiefe (Abb. 1). Leider beschreibt die Analogie zum Berggipfel aber noch nicht die ganze Wahrheit. Allein die Befürchtung oder das Gerücht einer möglichen Verknappung kann den Fall auslösen. Wir kennen es mittlerweile als Klopapier-Phänomen. Weder das Angebot noch die Nachfrage nach diesem Produkt, das erheblich zu unserer Lebensqualität beiträgt, hat sich durch die rasche Verbreitung des Coronavirus verändert. COVID-19 ist keine Darminfektion und zumindest in der Anfangszeit der Pandemie waren auch die Produktionskapazitäten nicht beeinträchtigt. Wir wissen inzwischen, dass solche psychologischen Effekte ohne realen Mangel Wochen bis sogar Monate anhalten können.
Abb. 1: Eine luxuriöse Berghütte am Gipfel des Matterhorns hätte zweifellos den besten Rundumblick über die Schweiz hinaus nach Italien, Frankreich und Deutschland; bei schlechtem Wetter könnte es aber zu Komforteinbußen und Versorgungsengpässen kommen (Bild: J. Hofinger)
Abkehr von der Globalisierung?
Viele große Unternehmen überdenken daher ihre bislang kostenoptimierten Beschaffungsstrategien. Um Abhängigkeiten zu vermeiden, stand seit jeher die Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen durch Zweit- und Drittlieferanten im Fokus. Das reicht aber nicht mehr aus, wenn sich die Lieferanten auf Regionen konzentrieren, die von den Verwerfungen betroffen sind oder betroffene Regionen wichtige Transportwege darstellen.
Was ist nun die beste Strategie? Wird die Zukunft eine Rückentwicklung, eine Abkehr von der Spezialisierung und eine Rückkehr zu höheren Fertigungstiefen, ein Trend zu mehr Universalunternehmen, die in ähnlicher Form auf der ganzen Welt zu finden sind, bringen? Das würde zwar die Liefersicherheit von Waren drastisch erhöhen, ist aber wohl ebenso unwahrscheinlich wie die Rückkehr des Universalgelehrten in den Wissenschaften.
Seitdem der Homo Sapiens vor etwa 70 000 Jahren eine Kultur geschaffen hat, ist die technische Entwicklung nicht nur immer weiter vorangeschritten, sondern hat sich dramatisch beschleunigt. Hätte man jemanden im Jahr 1000 in Europa einfrieren und 266 Jahre später wieder auftauen können, dann wäre die Person ohne größere Probleme in der neuen Zeit zurechtgekommen. Einen Eindruck, wie das heute aussehen würde, kann man im alten Gasspeicher in Dresden bekommen. Dort ist gegenwärtig von einem Turm in der Mitte des Speichers aus ein riesengroßes Panorama des alten Dresden von 1756 zu sehen. Der Effekt ist geradezu verblüffend und man fühlt sich sofort in die damalige Zeit zurückversetzt. Da mag zunächst eine gewisse Romantik mitschwingen. Wer tiefer in die Situation eintaucht, dem wird aber schnell klar, wie sich die Romantik in einen Albtraum verwandeln würde. Ebenso wäre ein Mensch von 1756 in der heutigen Zeit vermutlich ziemlich hilflos.
Während unser Wissen und der technische Fortschritt immer schneller zunehmen, haben sich unsere genetischen Anlagen seit der Steinzeit kaum verändert. Für das Individuum gilt somit, dass der technische Fortschritt nur mit immer größerer Spezialisierung erreicht werden kann, die allerdings für sich gesehen zwingend immer bedeutungsloser wird und nur in Kooperation mit vielen anderen Spezialisten wieder zu brauchbaren Produkten führt. Der Fortschritt resultiert also aus immer größeren Gruppen, die miteinander kooperieren.
Silicon Valley ist kein Zufall
Sowohl Wissen als auch Können eignen wir uns nicht als Einsiedler an, sondern in kleinen Gruppen. Wir lernen voneinander, sind aber auch ehrgeizig und wollen unseren Status im Wettbewerb definieren. Paradoxerweise umgeben wir uns gerne mit Gleichgesinnten, wir uniformieren uns gerne, wollen uns aber in der Gruppe – besonders in den westlichen Zivilisationen – unbedingt durch Individualität hervortun und unterscheiden. Die leistungsfähigsten Gruppen bestehen daher aus Mitgliedern,
- die Experten eines Themas sind und sich gegenseitig befruchten,
- die innerhalb dieser Expertise ihre besonderen Stärken und Schwächen besitzen und darüber ihre Rollen in der Gruppe definieren.
Vor allem auf Dauer ist die Weitergabe von Wissen und Können wichtig, ebenso aber auch Anreize zu Veränderungen zusammen mit einem Selektionsmechanismus, der positive Veränderungen von negativen unterscheiden kann. Die sehr enge Zusammenarbeit von wenigen sind Teams, die Kern von kleinen Unternehmen oder Teil von großen Unternehmen sein können. Darüber hinaus kooperieren wir natürlich mit einer größeren Anzahl von Personen, aber nicht mit beliebig vielen. Außerdem ist für die Verbreitung von Wissen und Können die räumliche Nähe eine wichtige Einflussgröße. Das liegt einerseits sicher daran, dass Entfernungen und damit Transporte immer noch ein maßgeblicher Kosten- und Zeitfaktor sind.
Mindestens so wichtig ist aber mutmaßlich die menschliche Interaktion, die trotz moderner Kommunikationsmittel auf persönlichen Kontakten beruht. Auch geschäftliche Beziehungen sind weit mehr als nur der Austausch von Informationen. Oder anders ausgedrückt: Der erfolgreiche Geschäftsabschluss funktioniert auf dem virtuellen Golfplatz in der Cloud nicht ansatzweise so gut wie in der Realität.
Vertikale und horizontale Spezialisierung
Die Spezialisierung als natürliche Folge des technologischen Fortschritts kann auf zwei Arten erfolgen. Eine vertikale Ausprägung bedeutet eine Konzentration auf immer kleinere Fertigungsschritte mit der Folge einer Verlängerung der Lieferketten und einer erhöhten Fragilität der Produkte. Sie kann aber auch horizontal erfolgen durch die Konzentration auf einzelne Technologien, um einen bestimmten Fertigungsschritt zu realisieren.
So gibt es zum Beispiel ganz verschiedene Möglichkeiten, um Kunststoffbauteile mit Metallen zu beschichten (Abb. 2). Nicht alle Eigenschaften sind mit allen Technologien zu erreichen, vor allem nicht zu den gleichen Kosten. Aber es gibt auch große Überschneidungen, sodass im Einzelfall nicht unbedingt so leicht ersichtlich ist, welches Verfahren für eine bestimmte Fragestellung besonders gut geeignet ist. Vertikale Kooperationen entlang der Lieferkette bilden sich praktisch ohne größere Barrieren von selbst aus; sie sind meist für alle Beteiligten ein Gewinn und stellen für niemanden eine Bedrohung dar. Kooperationen zwischen horizontal positionierten Unternehmen, die also potenziell für Kunden das selbe Problem lösen, sind verständlicherweise eher unüblich. Es handelt sich schließlich um technologische Wettbewerber, zumindest auf den Gebieten, auf denen mit verschiedenen Technologien Lösungen für die selben Kundenprobleme angeboten werden.
Abb. 2: Verschiedene Technologien, um Kunststoffbauteile mit Metallen zu beschichten
Wie in so vielen Situationen des Lebens ist aber auch hier die Angst größer als die reale Gefahr. Vor allem, weil ohnehin keine mögliche Handlungsoption gefahrlos ist. Das Gefühl durch Unterlassung auf der sicheren Seite zu sein, trügt. Es ist vermutlich einer unserer ganz frühen Vorfahren geschuldet, dass wir intuitiv meinen, Risiken vermeiden zu können, in dem wir den Kopf in den Sand stecken und warten, bis das Unwetter vorübergezogen ist.
Die einzige Gefahr einer solchen Kooperation besteht darin, Aufträge zu verlieren, weil es in bestimmten Fällen für Kunden bessere Technologien gibt, auf die man diese erst aufmerksam gemacht hat. Dem stehen aber größere Vorteile gegenüber:
- Technologieoffene Herangehensweisen sind für Kunden wesentlich attraktiver, besonders in technologisch unübersichtlichen Situationen
- Je höher der Spezialisierungsrad, desto schwieriger und ineffizienter wird die Suche nach neuen Kundengruppen
- Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit technologischen Wettbewerbern bedeutet für alle Partner einen besseren Informationsstand
- In speziellen Fällen bieten sich für Kunden Kombinationslösungen aus verschiedenen Technologien an, die nur in Zusammenarbeit mit Experten aus beiden Gebieten möglich sind
Die Biconex GmbH ist ein kleines Unternehmen mit einer langjährigen Expertise für die chemisch-galvanische Beschichtung besonderer Kunststoffe. Mit deren kleinen Produktionslinien können je nach Größe einige hunderttausend bis einige Millionen Bauteile pro Jahr beschichtet werden. Die besondere Spezialität sind Hochtemperaturkunststoffe wie PPS, PEI und PEEK, die das Potenzial haben, Metalle zu ersetzen. Das Angebot des Unternehmens reicht von Beratung, Bedarfsanalysen, Machbarkeitsstudien, Serienentwicklungen über Lohnbeschichtung bis hin zur Prozessoptimierung (Abb. 3). Soll das große Potenzial der Werkstoffkombination Metall auf Kunststoff für die Verbesserung von Produkten genutzt werden, ist es nicht ratsam, sich bereits vorab auf eine bestimmte Technologie festzulegen. Genau das passiert aber für gewöhnlich, wenn ein Interessent auf einen für eine bestimmte Technologie spezialisierten Lieferanten angesprochen wird. Durch sein Partnernetzwerk kann die Biconex dagegen die Entwicklung eines Produkts bis zur Serienanwendung technologieoffen begleiten und ist zentraler Ansprechpartner für das Thema Metallbeschichtung auf Kunststoffen.
Abb. 3: Qualitative Bewertung verschiedener Eigenschaften metallbeschichter Kunststoffe in Abhängigkeit vom Beschichtungsverfahren
Ein wichtiger Aspekt dieser Vorgehensweise ist das Vermeiden von Abhängigkeiten, insbesondere für Kunden. Auch wenn Biconex gerne das Produkt in der Serienanwendung beschichtet, ist das keine Bedingung und liegt in der Entscheidung der Kunden. Auf Kundenwunsch werden auch andere zur Nutzung der Biconex-Verfahren befähigt, mit allen Aspekten, die dazu erforderlich sind. Als Ersatz für einen Teil der Vergütung von erbrachten Leistungen können zum Beispiel in der Entwicklungsphase Erfolgsbeteiligungen vereinbart werden, um für alle Partner Anreize für den kommerziellen Erfolg des Projekts zu setzen, vor allem, falls diese später nicht in die Produktion eingebunden werden sollten.
Was die Zukunft bringen könnte
Fertigungsprozesse werden natürlich robuster, wenn die Optimierung nicht auf die Spitze getrieben wird. Abhängigkeiten von eng begrenzten Regionen auf der Welt und das letzte Quäntchen Just in Time-Optimierung provozieren geradezu den ungeplanten Stillstand. Interessanter sind aber Potenziale für einen ökonomischen, ökologischen und technischen Fortschritt, ohne die Anfälligkeit für Störungen zu erhöhen. Die Zeit wird zeigen, ob wir durch modernere Kommunikationsmittel die Ausprägung regionaler Zentren für bestimmte Produkte reduzieren können. Auf jeden Fall steckt noch viel Potenzial in der Art und Weise, wie wir uns als Menschen organisieren.
Zu wenig Berücksichtigung finden bislang unsere Bedürfnisse, die sich seit der Steinzeit im Vergleich zur rasanten Entwicklung unserer Gesellschaft kaum verändert haben. Und solange unsere Gene nicht manipuliert werden, wird sich das auch nicht so schnell ändern. Die Bedürfnisse, das Verlangen sind treibende Kraft für unser Handeln. Die Annahme, Menschen würden primär rational handeln, ist ausgesprochen irrational. Rationales Denken ist dazu da, um unsere intuitiven Handlungsabsichten kritisch zu hinterfragen. Leider ist es meistens nur ein Instrument, um eine bereits gefühlsmäßig getroffene Entscheidung nachträglich zu rationalisieren.
Kooperationen zwischen Unternehmen, die zumindest teilweise im Wettbewerb zueinander stehen, sind zwar nicht neu, aber immer noch selten. Die größte Hürde für diese als Coopetition bekannten Partnerschaften stellt ein natürliches Misstrauen dar, das sich bei nicht funktionierenden Kooperationen sogar noch weiter verstärken kann. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die richtigen Spielregeln, die dafür sorgen, dass kooperatives Verhalten belohnt wird. In der Spieltheorie wird der optimale Zustand einer solchen Kooperation als Nash-Gleichgewicht bezeichnet. Nicht vergessen werden sollte dabei, dass auch innerhalb von Unternehmen gespielt wird. Aus der Perspektive der menschlichen Bedürfnisse wird ein Wettbewerb zwischen Abteilungen eines Unternehmens nicht weniger als ein solcher empfunden wie der Wettbewerb zwischen Unternehmen. Es sind eher die Dosis und die Rahmenbedingungen, die bestimmen, ob Wettbewerb im sportlichen Sinne als anregend oder als destruktiv empfunden wird.