Wenn das Hüftgelenk aus dem Drucker kommt

Medizintechnik 07. 08. 2021
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Deutsch-polnisches Leistungszentrum der Fraunhofer-Gesellschaft bringt additive Fertigung in die Medizintechnik – erste Demonstratoren werden bereits Ende 2021 präsentiert

Es geht um Hightech-Zahnersatz, um Prothesen, die Entzündungsreaktionen im Körper eigenständig erkennen oder individuell angepasste Sitze für Rollstühle. Ein deutsch-polnisches Leistungszentrum der Fraunhofer-Gesellschaft erforscht neue Technologien für den Einsatz von 3D-Druckverfahren, der sogenannten additiven Fertigung, in der Medizintechnik. Für die Fraunhofer-Gesellschaft ist es eines von zwei im März gestarteten internationalen Leistungszentren, die sich explizit der grenzübergreifenden Zusammenarbeit widmen. Beteiligt am Zentrum Additive Technologien für Medizin und Gesundheit (ATeM) sind auf deutscher Seite das Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik IWS in Dresden sowie das Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik IWU in Chemnitz. Sie kooperieren mit der Fakultät Maschinenbau und dem Center for Advanced Manufacturing Technologies (CAMT) der Technischen Universität Breslau. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt das Projekt finanziell.

Zahnprothesen entstehen aktuell in aufwendiger Handarbeit, die durch die Entwicklungen des ATeM schneller, kostensparender und ressourcenschonender gestaltet werden können (Bild: Christoph Wilsnack/Fraunhofer IWS)

 

Kieferorthopädische Distraktoren werden heute als Standardteil gefertigt und erst im Operationsprozess angepasst, was als langwierig und unangenehm für den Patienten gesehen wird. Die additive Fertigung soll die Vorlaufzeiten verkürzen und eine individuellere Anpassung an den Patienten ermöglichen (Bild: Christoph Wilsnack/Fraunhofer IWS)

 

Additive Technologien bergen gerade für Hersteller in der Medizintechnik interessante Möglichkeiten. Der 3D-Druck erlaubt individuelle und auf den Patienten zugeschnittene Lösungen sowie die Integration neuer, verbesserter Eigenschaften und Funktionen in Bauteile. Dies ist meist nicht nur deutlich kostengünstiger als herkömmliche Verfahren, sondern erlaubt auch, neuartige ­Therapien und Behandlungsansätze bereitzustellen.

Das 2021 gegründete Leistungszentrum ATeM möchte die additive Fertigung in den kommenden Jahren zum etablierten Standardwerkzeug in der Medizintechnik machen. Ende des Jahres wollen die Projektpartner bereits erste Demonstratoren vorstellen. In verschiedenen Einzelprojekten loten die Partner dafür neue Anwendungsfelder aus. Eines der Projekte beschäftigt sich mit den Chancen des 3D-Drucks in der Zahnmedizin.

Lab-on-a-Chip-Systeme sollen perspektivisch Tierversuche substituieren und einen patientenspezifischen Medikamenteneinsatz ermöglichen; das ATeM nimmt die Produktion dieser Systeme in den Blick, um filigrane Halbleitersysteme direkt, biokompatibel und fluidisch dicht in diese Systeme zu integrieren (Bild: Christoph Wilsnack/Fraunhofer IWS)

 

Piezosensoren sollen in Schuheinlagen eingedruckt dabei helfen, die Gewichtsverteilung zu analysieren, und daraus folgend Haltungsschäden vorbeugen (Bild: Christoph Wilsnack/Fraunhofer IWS)

 

Großes Potential liege in der Nutzung von innovativen Werkstoffen und der Integration zusätzlicher Funktionalitäten in den Zahnersatz, die den Tragekomfort für den Patienten erhöhten, wie dazu Prof. Dr. Frank Brückner, Technologiefeldleiter Generieren und Drucken am Fraunhofer IWS, erklärt. Die additive Fertigung könnte es gestatten, deutlich komplexere Implantate nach einem 3D-Scan des Mundraums sofort zu drucken und damit Wartezeiten zu verkürzen. Über additive Verfahren ließen sich beispielsweise auch Metall- und Kunststoffmaterialien für eine verbesserte Ästhetik miteinander kombinieren.

Intelligente Hüftgelenke

Ein weiteres Anwendungsszenario betrifft Funktionserweiterungen, wie etwa die direk­te Integration von Sensoren in medizinische Komponenten. Empfindliche Sensoren in additiv hergestellten Knie- oder ­Hüftgelenken könnten Entzündungsreaktionen nach der Operation feststellen, indem sie auf ­höhere Temperaturen oder veränderte Biomarker reagieren. Ebenfalls gedruckt werden ­sollen in Zukunft Lab-on-a-Chip-Systeme, mit denen sich Organfunktionen und Abläufe im menschlichen Körper auf einem Chip darstel­len lassen. Das könnte zum Beispiel beim Testen von Medikamenten zum Einsatz kommen.

CAMT-Labor an der Universität für Wissenschaft und Technik in Breslau (Bild: CAMT, TU Breslau)

 

Wie sich faserverstärkte 3D-Strukturen drucken lassen, erforschen derzeit Wissenschaftler in zwei Projekten unter Leitung des Fraunhofer IWU. Wie Prof. Dr. Lothar Kroll, Wissenschaftlicher Direktor Leichtbau- und Textiltechnologien am Fraunhofer IWU, erläutert, lässt sich ein belastungsgerechtes Design eines Produkts, das dazu noch sehr leicht ist, mit dem Einsatz von Verstärkungsfasern, die direkt in die Kunststoffmatrix eingebracht werden, erreichen. Damit ließen sich beispielsweise Schädelimplantate aus dem biokompatiblen thermoplastischen Kunststoff Polyetheretherketon (PEEK) drucken. Auch an individuell angepassten Sitzen für Rollstühle sowie hochfesten Orthesen arbeiten die Forschenden momentan.

Patienten profitieren schon bald von den Ergebnissen

Bereits seit 2008 existiert ein Fraunhofer-Project-Center, das vom Fraunhofer IWS und dem CAMT der TU Breslau betrieben wird. Wir freuen uns, dass wir mit dem neuen Leistungszentrum nun die ­Synergieeffekte dieser erfolgreichen Zusammenarbeit weiter ausbauen können, so Prof. Dr. Edward Chlebus, Dekan der Fakultät Maschinenbau der TU Wroclaw. Das in Deutschland von der Fraunhofer-Gesellschaft bereits langjährig ­erprobte Modell der Leistungszentren richtet einen starken Fokus auf den Wissenstransfer und Industriekooperationen. Auch grenz­übergreifend setzt es nun wichtige Impulse für die Stärkung der europäischen Wirtschaft.

Alle Partner sind nach Aussage von ­Robin Willner, Wissenschaftler am Fraunhofer IWS und Koordinator der Geschäftsstelle des deutsch-polnischen Leitungszentrums, Experten auf dem Gebiet der additiven Fertigung. Die TU Breslau ist zudem noch sehr eng mit der dortigen Medizinischen Fakultät verbunden. Zusammen haben die Fachleute der Institute nun einen guten Blick darauf, wo Bedarfe bestehen, wo bisher noch keine Lösungen gefunden wurden und additive Technologien im Medizin- und Gesundheitsbereich Mehrwerte schaffen könnten.

Bereits Ende des dritten Quartals 2021 wollen die Beteiligten erste Demonstratoren zu den verschiedenen Projekten präsentieren. Das ist zügig möglich, weil die Partnereinrichtungen wichtige Grundlagen für die aktuelle Forschung in der Vergangenheit bereits in verschiedenen Vorstudien realisierten. Über Industriekooperationen oder mögliche Ausgründungen sollen die Ideen für neue Medizinprodukte und Therapien bereits in naher Zukunft den Patienten zugutekommen.

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