Wird der Begriff angewandte Forschung in der Technik in engem Sinn betrachtet, so ergibt sich fast zwangsweise der Schluss: Sie funktioniert nur sehr selten, da es kaum jemanden gibt, der sich ihr ernsthaft widmet. Unter Forschung verstehen produzierende Unternehmen fast immer die Optimierung von bereits funktionierenden Prozessen oder die Entwicklung von Produkten oder Prozessen, deren Funktionsweise bereits ausreichend bekannt ist. Forschungsinstitute interessieren sich dagegen meistens für die Wissenschaft unter dem Aspekt der Entdeckung von Neuem. Um von der Erkenntnis zu einer Anwendung zu kommen, die nicht nur technisch sondern auch unter den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen besser funktioniert als das, was wir bereits haben, wird viel Geduld benötigt, Wissen und schlanke Strukturen. Die Biconex GmbH in Radeberg stellt sich dieser Aufgabe und hat dafür eigene Methoden entwickelt, um möglichst effizient auf Basis wissenschaftlicher Forschung neue Prozesse für die chemisch-galvanische Beschichtung von Kunststoffen zu entwickeln.
1 Wichtig, aber dennoch ein ungeliebtes Stiefkind
Für manche Wissenschaftler ist es heute im Grunde noch so wie mit den Künsten im antiken Griechenland: Wer sich ihnen widmet, um Geld zu verdienen, ist ein Banause. Die wahre Wissenschaft ist nur die Grundlagenwissenschaft, die nicht durch den Gedanken an Anwendungen oder gar dem schnöden Kommerz getrübt wird. Dabei sollte eine Disziplin, die nichts weniger verspricht, als das Wissen und die Erkenntnisse der Menschheit in einen praktischen Nutzen für die Gesellschaft zu verwandeln, das höchste Ansehen genießen.
Doch es gibt noch andere Gründe, warum der angewandten Forschung nicht die Beliebtheit zuteil wird, die sie der Bedeutung nach verdient. Von jeher waren die Wissenschaften in abgegrenzte Disziplinen geteilt, die ihre eigenen Sichtweisen, Konventionen und sogar ihre eigene Sprache entwickelt haben. Auch Wissenschaftler fühlen sich in ihrer eigenen Gemeinschaft besonders wohl und die Sozialisierung mit fremden Disziplinen erfordert für viele einiges an Anstrengung und Überwindung. Da sich das Wissen der Menschheit in immer kürzeren Abständen verdoppelt, sich unsere geistigen Anlagen seit der Steinzeit aber nicht wesentlich geändert haben, bleibt uns nur die Flucht in immer kleinere Spezialgebiete. Ein Experte ist jemand, der mehr und mehr von immer weniger weiß. Die Zahl der Universalgelehrten hat schon seit dem 19. Jahrhundert drastisch abgenommen und heute kann kaum noch jemand das gesamte Wissen seiner eigenen Disziplin überblicken.
Abb. 1: Kunst als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, war bei den antiken Griechen noch verpönt (antike Amphore aus Terracotta) [12]
Die Wirklichkeit hält sich jedoch nicht an wissenschaftliche Disziplinen. Ein Kunststoffgehäuse, das nach vielen Jahren des Gebrauchs nicht mehr so hübsch aussieht wie nach dem Kauf, erhält seine sichtbaren Veränderungen durch viele Phänomene, die sich wechselseitig beeinflussen. Kleine Risse werden durch mechanische Spannungen hervorgerufen, die durch die Chemie der Umgebung aber auch durch Veränderungen des Grundmaterials hervorgerufen werden, wobei auch Temperaturen eine tragende Rolle spielen. Unter Umständen sind auch noch Mikroorganismen im Spiel, sodass neben der Bruchmechanik, Kontinuumsmechanik, Polymerchemie und Physik auch noch die Mikrobiologie eine Rolle spielen kann.
Abb. 2: Belastungen von Materialoberflächen können sich auch im optischen Erscheinungsbild bemerkbar machen (Bild: Biconex)
2 Das Problem des fundierten Halbwissens
Kaum ein Ereignis erzeugt ein größeres Gefühl tiefer Befriedigung als der Eindruck, einen schwierigen Zusammenhang in unserer wahrgenommenen Realität verstanden zu haben. Dabei kommt es gar nicht darauf an, ob die eigene Vorstellung mit der Realität tatsächlich übereinstimmt. Die eigene Theorie muss nur eine von vielen möglichen Erklärungen der Wirklichkeit sein. Viel entscheidender ist die Übereinstimmung mit eigenen Einstellungen, Glaubensgrundsätzen, Ängsten und Hoffnungen. Wir sehen nur das, was wir sehen wollen, daher sind nach den Erfahrung des Autors die ersten Theorien zu einem Phänomen fast immer falsch. Und zwar so falsch, dass sie nicht selten das Gegenteil von dem vorhersagen, was tatsächlich eintritt.
Fundiertes Halbwissen heißt leider nicht unbedingt, dass man schon auf halbem Weg zum richtigen Ergebnis gekommen ist, sondern nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das richtige Ergebnis vorhersagen kann. Glühende Verfechter der Elektromobilität sind von der CO2-sparenden Wirkung dieser Technologie überzeugt, die Vertreter der Verbrennungsmotoren vom Gegenteil. Fährt ein Elektroauto nun mit Kohlestrom oder mit Strom aus erneuerbaren Energien? Wird der Mittelwert des aktuellen Energiemixes zugrunde gelegt, wird man zu einem gemischten Ergebnis kommen. Falsch! sagen die Vertreter der Verbrennungsfraktion. Wenn wir ein Kraftwerk stilllegen, dann ist es ein Kohlekraftwerk und kein Solarkraftwerk oder Windpark. Wenn wir also mehr Strom für die Elektromobilität brauchen, ist es das Kohlekraftwerk, das nun doch noch am Netz bleibt. Durch diese Grenzbetrachtung fährt das Elektroauto also mit 100 Prozent Kohlestrom. Falsch! sagen jetzt die Vertreter der Elektromobilität. Strom ist nicht gleich Strom und aus unserem Netz kommt kein konstanter Mix aus verschiedenen Energiequellen. Ich lade meine Auto mit Überkapazitäten im Netz, die durch Solar- und Windenergie zeitweise zur Verfügung stehen oder mit dem Strom meiner eigenen Solaranlage. Somit werden aufgrund derselben Grenzbetrachtung 100 Prozent Ökostrom genutzt. Das Auto darf dann natürlich besser nicht in der Nacht geladen werden; und im Winter ist die Situation auch eher problematisch. Wie auch immer jetzt die Entscheidung beim Betrachter ausfällt; das Beispiel illustriert, dass uns plausibel klingende Argumente sehr schnell zu voreiligen Schlüssen verleiten.
3 Die Ursachen des fundierten Halbwissens
Grundvoraussetzung für das Erlangen von echtem Wissen ist grundsätzlich, dieses auch erlangen zu wollen. Das klingt banal; zudem soll damit natürlich die Bedeutung einer fundierten Ausbildung und Berufserfahrung nicht gering geschätzt werden. Über deren Bedeutung herrscht weitgehend Einigkeit.
Der Stolperstein zur Erkenntnis sind meistens die eigenen Vorurteile, Hoffnungen oder Ängste. Unsere Fähigkeit, bewusste, rationale Entscheidungen zu treffen ist viel geringer, als wir denken. In einer bahnbrechenden Studie haben bereits 2008 Soon et al. [1] nachgewiesen, dass wir selbst einfache Entscheidungen in Wirklichkeit bereits bis zu zehn Sekunden früher getroffen haben, als uns bewusst ist. Daraus geht hervor, welchen großen Einfluss Faktoren des Unterbewusstseins in unserer Entscheidungsfindung haben.
Wenn wir die Existenz bestimmter Ereignisse nicht wollen, neigen wir dazu, sie für unwahrscheinlich oder gar unmöglich zu halten, wie schon Christian Morgenstern in seinem Gedicht Die unmögliche Tatsache erkannte: Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf [2]. Noch gefährlicher für das Urteilsvermögen sind positive Erfahrungen, der Fluch des frühen Erfolges. Wenn sich eine der ersten Theorien in einem Experiment bestätigt hat, neigt man dazu, sich eisern daran zu klammern, selbst wenn deren Unrichtigkeit anderen längst offensichtlich geworden ist.
Der Erfahrungshintergrund und Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Souveränität des Wissenschaftlers haben nach dem oben Gesagten einen großen Einfluss auf den Erkenntnisprozess. Im Gegensatz dazu kann davon ausgegangen werden, dass Intelligenz höchstens eine untergeordnete Rolle spielt, wenn überhaupt. Ein besonders intelligenter Wissenschaftler wird entsprechend seiner Fähigkeiten besonders raffinierte Methoden entwickeln, um sich selbst zu täuschen. Rein technisch gesehen hilft somit nur das Bewusstsein über diese signifikanten persönlichen Einflussgrößen und die Selbsterkenntnis. Ziel ist die Lösung von emotionalen Bindungen an das Objekt der Betrachtung und eine vollständige Offenheit, was das Ergebnis der Forschung betrifft.
Abb. 3: Visuelle Darstellungen geben uns eine intuitive Vorstellung von Sachverhalten, die leicht in die Irre führen können. Besonders bei der Darstellung von Veränderungen ist Vorsicht geboten: Die linke Grafik suggeriert eine verheerende Wirtschaftsentwicklung in Deutschland von 1998 bis 2001. In der rechten Grafik wird dagegen klar, dass bereits 1998 hier die Verdienste auf einem sehr hohen Niveau waren [13]
Wissenschaftler arbeiten meistens in Gruppen, wobei der Anschein von echten Teams häufig trügt. Die Ursache der Gruppenbildung liegt vor allem in der ressourcenschonenden Nutzung von teuren Arbeitsmitteln. Von Natur aus sind Wissenschaftler eher Einzelgänger. Die Bildung von Gemeinschaften und Gesellschaften zu den einzelnen Bereichen und Spezialgebieten, international neudeutsch als science communities bezeichnet, sind eher eine Bestätigung als ein Widerspruch zu dieser These. Es gibt genügend Raum, um sich auf sein jeweiliges Spezialgebiet zurückziehen zu können und die großen Spezialisten zu den einzelnen Themen sind weltweit über verschiedene Institute verstreut. Sie müssen sich daher nicht täglich über den Weg laufen und wollen dies auch nicht, da sie sich einzeln im Wettbewerb befinden. Es ist ein Wettbewerb der Publikationen und des öffentlichen Ansehens, der wiederum zu Freiräumen für die eigene Tätigkeit führt. Den Wettbewerb gewinnt, wer neue Ideen und Theorien generiert, nicht, wer sich mit den vorhandenen Theorien auseinandersetzt.
Im Gegensatz zur angewandten Forschung in Unternehmen gilt eine These in der Wissenschaft so lange als gültig, bis jemand das Gegenteil bewiesen hat. Dass es in vielen Bereichen der Wissenschaft kaum Anreize für die Auseinandersetzung mit vorhandenen Theorien gibt, wirkt sich also nicht gerade qualitätsfördernd aus. Bei der industriellen angewandten Forschung hat dagegen die harte Realität immer das letzte Wort: Stellt sich nicht der versprochene Kundenvorteil ein, wird das Produkt eben nicht gekauft.
Besitzen die Forschungsgemeinschaften wirtschaftlichen Einfluss, kann noch eine andere Art von Gruppendynamik entstehen, wie wir sie vor allem von den großen Wissenschaftsakademien der vergangenen Jahrhunderte in Europa kennen: Starke Hierarchien innerhalb der Gemeinschaften, die für die Verteilung von finanziellen Mitteln maßgeblich sind, nehmen die einzig wahre Wissenschaft für sich in Anspruch und engen den Rahmen immer mehr dafür ein, was gedacht werden darf. Manche großen Wissenschaftler wie der Arzt Ignaz Semmelweis, Begründer der allgemeinen Antisepsis, sind daran verzweifelt. Aber auch in unserer Zeit besteht diese Gefahr nach wie vor.
4 Wie kommen wir zu neuen Erkenntnissen?
Als sich der weise Mensch vor etwa 70 000 Jahren aus verschiedenen Menschenarten entwickelt hat, war es vor allem seine Fähigkeit der Kooperation, sein Sozialverhalten, das ihn vom Rest der Lebewesen unterschieden hat. Das ist heute aktueller denn je. Die angewandte Forschung steht nicht im Wettbewerb zur Grundlagenforschung oder der industriellen Forschung und Entwicklung. Ebenso wie die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen nicht im Wettbewerb zueinander stehen. Ein gesellschaftlicher Nutzen wird nur im guten Zusammenspiel erreicht. Mehr denn je besteht großes Potenzial in der Durchgängigkeit von Forschung und Entwicklung und zwar sowohl vertikal, das heißt von den theoretischen Grundlagen bis zum fertigen Produkt, als auch horizontal über die Sichtweisen und Blickwinkel der technisch-wissenschaftlichen Fachgebiete.
Nicht die Genialität und Intelligenz der einzelnen Menschen hat sich seit der Steinzeit so dramatisch verändert und zu unserer modernen Industriegesellschaft geführt, sondern unsere Fähigkeit der fruchtbaren Zusammenarbeit in immer größeren Gruppen. Um in der angewandten Forschung und Entwicklung erfolgreich zu sein, achtet Biconex daher aus Erfahrung vor allem auf folgende drei Faktoren:
- gemeinsames Interesse
- Vertrauen
- Unterschiede respektieren
4.1 Gemeinsames Interesse
In seinem Buch Eine kurze Geschichte der Menschheit führt der Historiker Yuval Noah Harari die besondere Möglichkeit der Menschheit, in großen Gruppen zusammenzuleben, auf die Fähigkeit des Erzählens von Geschichten, von gemeinsamen Mythen und Legenden zurück [3]. Auch wenn Regionalität, die räumliche Distanz zwischen Kooperationspartnern, nach wie vor eine Rolle spielt, ist es mehr denn je in unserer globalisierten Welt der gemeinsame Glaube, der eine langfristige Zusammenarbeit auch über größere Entfernungen hinweg ermöglicht. Dabei kommt es auf die gemeinsame Sache an, um ein und die selben Ziele, die alle interessieren und an die alle glauben.
Förderprogramme haben daher naturgemäß das Problem, dass das Interesse der Partner hauptsächlich aus der gemeinsamen Akquise der finanziellen Mittel besteht. Das stellt dementsprechend eine besondere Herausforderung für die Projektträger dar. Naturgemäß ist also die Zusammenarbeit in der Antragsphase am größten. Gemeinsames Interesse heißt nicht, dass alle Partner in der vertikalen Wertschöpfungskette immer die gleichen Beiträge leisten. Das Interesse des Grundlagenwissenschaftlers darf aber nicht mit dem Schreiben der Veröffentlichung enden, die ja jeder lesen kann, der sich dafür interessiert. Genauso verschenkt ein Entwickler in der Industrie riesengroße Potenziale, wenn er darauf wartet, dass ihm Grundlagenergebnisse erst mundgerecht und mit Gelinggarantie aufbereitet werden. Das gemeinsame Interesse muss kein direktes materielles Interesse sein.
Gerade für viele Wissenschaftler hat der Sinn ihrer Tätigkeit für die Gesellschaft, aber auch die Erkenntnis selbst, eine große Bedeutung, die zudem Anerkennung finden muss. Formale Rahmenbedingungen fördern dagegen das gemeinsame Interesse kaum: Die Gründung eines Vereins mit der Definition von Zielen in den Statuten führt nicht zu einem gemeinsamen Interesse, sondern kann höchstens die Organisation von Aktivitäten der Partner verbessern, die das gemeinsame Interesse bereits verbindet. Nicht selten führen solche Konstrukte jedoch nur zu Verwaltungsaufwand, lenken von den eigentlichen Zielen ab und wirken auf jene anziehend, die das eigentliche gemeinsame Interesse nicht teilen.
4.2 Vertrauen
Der Glaube an gemeinsame Ziele und an gemeinsame Interessen setzt den Glauben daran voraus, dass sich alle Partner erwartungsgemäß verhalten. Regeln der Zusammenarbeit können das Vertrauen unterstützen. Gute Regeln sind daran zu erkennen, dass deren Einhaltung für den einzelnen auch dann vorteilhaft ist, wenn sich die anderen nicht daran halten. In der Spieltheorie wird dann von einem sogenannten Nash-Gleichgewicht gesprochen [4]. Für Forschungs- und Entwicklungspartnerschaften spielt jedoch das persönliche, zwischenmenschliche Vertrauensverhältnis eine weitaus größere Rolle, da die Zahl der Partner für gewöhnlich überschaubar bleibt. Je nach Persönlichkeit gibt es mehr oder weniger vertrauenswürdige Menschen. Wenn ein Wissenschaftler den Ruf hat, sich Ideen oder gar Ergebnisse anderer unrechtmäßig anzueignen, wird man ihn meiden. In eindeutigen Fällen wird ihm oder ihr dieser Ruf vorauseilen.
Die Praxis ist aber oft wesentlich subtiler. Jeder Mensch erweist sich aufgrund seines individuellen Stärken- und Schwächenprofils in Bezug auf verschiedene Verhaltensweisen auch unterschiedlich vertrauenswürdig. Ebenso wird die Sensibilität auf verschiedene Verhaltensweisen durch das selbe Stärken- und Schwächenprofil beeinflusst. Die Frage des Vertrauens hat somit eine sehr stark subjektive Komponente. Gerade Wissenschaftlern, die sich von Berufs wegen mit objektiven Größen beschäftigen, erschließt sich das nicht einfach von selbst. Man muss nicht eng miteinander befreundet sein, aber eine geschärfte Wahrnehmung der Situation seiner Teampartner ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Die Situation, in der sich ein mehr oder eben weniger produktives Team befindet, leitet sich aus der Situation der Mitglieder und dem Verhältnis der Mitglieder zueinander ab. Gute Teams bestehen in der angewandten Forschung aus sehr unterschiedlichen Charakteren. Das erschwert die Schaffung einer Vertrauensbasis noch zusätzlich.
Nicht zu verwechseln ist das gesunde Vertrauen mit naiver Vertrauensseligkeit. Wissen und Fähigkeiten, die der Einzelne sich persönlich oder in einem Team, einem Unternehmen oder einer Forschungseinrichtung erarbeitet hat, sind eine Investition in die Zukunft. Nur eine Verwertung dieser Investition ermöglicht weitere Investitionen in der Zukunft. Daher ist es von großer Bedeutung, sich bewusst zu machen, welcher Teil des geistigen Eigentums geheim bleibt und welcher Teil mit den Partnern kommuniziert werden kann. Das sollte für die Partner auch klar erkennbar und nachvollziehbar sein.
4.3 Das Respektieren von Unterschieden
Von Natur aus umgeben wir uns gerne mit Menschen, die ähnlich denken und sich ähnlich verhalten wie wir selbst. Während das gemeinsame Interesse für den Erfolg von Entwicklungsteams sehr wichtig ist, so müssen die Mitglieder doch offensichtlich sehr unterschiedliche Beiträge leisten. Nicht nur die gewählten Berufe an sich, sondern auch die Spezialisierungen innerhalb der Berufe spiegeln die Vorlieben und Eigenschaften von Menschen, aber auch ihre Fähigkeiten und Talente wider. In guten Entwicklungsteams muss man sich dessen bewusst sein und der Wunsch nach Gleichgesinnten darf hier nicht Vater des Gedankens werden. Gemeinsamkeiten können nur dann verbinden, wenn auch die Unterschiede klar benannt und respektiert werden.
Für Wissenschaftler ist die Neuheit von Verfahren und Theorien immer ein erstrebenswertes Ziel. Nur wenn etwas hinreichend neu ist, ist es auch publikationswürdig. Aus Sicht der Industrie ist neu aber eine Eigenschaft, die häufig nur in der Marketingabteilung Begeisterung auslöst. Neu heißt nicht unbedingt besser, es bedeutet aber fast immer Risiko. Funktioniert ein Versuch nicht, dann ist das normaler Forschungsalltag. Steht die Produktion still, ist das eine Katastrophe, die wahrscheinlich nur derjenige so richtig erfassen kann, der es selbst erlebt hat.
Es gibt aber auch klare Unterschiede in den Bedürfnissen der Mitglieder interdisziplinärer Teams entlang der Wertschöpfungskette. Nur die wenigsten Wissenschaftler an Instituten sind fest angestellt und benötigen daher Drittmittelprojekte über mehrere Jahre hinweg für ihre Finanzierung. Entwickler in Unternehmen stehen - ausgenommen vielleicht zentrale Forschungseinrichtungen der Großkonzerne - unter einem sehr kurzfristigen Erfolgsdruck. Nicht selten prallen daher bei Projekttreffen zwischen so unterschiedlichen Gruppen Welten aufeinander. Es bedarf einer guten Moderation, nach Herstellen einer Vertrauensbasis, für ein substanzielles wechselseitiges Verständnis zu sorgen, aber auch die gemeinsamen Interessen und Ziele klar herauszuarbeiten und die Partner darauf einzuschwören.
5 Was wir (nicht nur) für die Corona-Pandemie daraus lernen können
Der positive Aspekt von Unzufriedenheit ist immer, dass wir dabei erkennen, wieviel ungenutztes Potenzial uns noch zur Verfügung steht. Forschung und Entwicklung haben uns bereits in den letzten etwa 500 Jahren viel Wohlstand gebracht. Die Schwerpunkte ändern sich. Es gibt neue Gefahren und neue Herausforderungen. Seit wir ein hohes Maß an Wohlstand erreicht haben und die existenzielle Bedrohung durch kriegerische Auseinandersetzungen kaum noch empfunden wird, hat der Schutz der Umwelt in letzter Zeit immer mehr an Bedeutung gewonnen. Vielen Menschen ist aber noch zu wenig bewusst, dass wir unsere Hoffnungen nicht auf einzelne Experten setzten sollten, sondern auf die erfolgreiche Zusammenarbeit von produktiven Teams.
Wie schon erwähnt, sind Wissenschaftler heute hochspezialisiert. Ein Virologe ist sicher ein Experte für Viren. Wenn sein Spezialgebiet Coronaviren sind, dann kennt er sich damit vermutlich besonders gut aus. Er weiß wie kein anderer, an welcher Stelle dieses hochkomplexen organischen Konstrukts welche Moleküle angedockt werden können oder wie deren Vermehrung in Wirtsorganismen abläuft. Er ist somit ein wichtiger Experte für die Entwicklung eines Impfstoffs. Er ist aber höchstwahrscheinlich ein schlechter Adressat, wenn es um die Heilung der vom Virus hervorgerufenen Krankheit geht.
Ob er etwas zur Eindämmung von Krankheiten beitragen kann, die sich durch das Virus verbreiten, ist auch nicht automatisch gegeben. Das wäre eher ein Thema für Epidemiologen, die jedoch ebenfalls auf bestimmte Themen spezialisiert sind. Diese interessieren sich meistens weniger für die technisch-wissenschaftlichen Hintergründe der verschiedenen möglichen Ausbreitungswege, sondern nehmen Annahmen oder Daten zu Ausbreitung als Eingangsgrößen, mit denen sie über Modelle die Ausbreitung simulieren. Werden die Modelle zu komplex, müssen eventuell Mathematiker hinzugezogen werden. Schließlich ergeben sich Fragen wie etwa: Gibt es eine bevorzugte Art der Ausbreitung, die für einen Großteil der Infektionen verantwortlich ist? Welche Rolle spielt die sogenannte Schmierinfektion über Oberflächen, die Tröpfcheninfektion beim Sprechen, Niesen oder Husten oder die Übertragung über Aerosole in der Luft? Gerade die Aerosolforschung ist ein typisches interdisziplinäres Fachgebiet, das dazu wichtige Beiträge liefert. Aktuelle Untersuchungen weisen auf die große Bedeutung bei der Ausbreitung von Coronaviren über diesen Übertragungskanal hin [5-11].
Ein besseres Verständnis der Mechanismen sollte uns zukünftig stärker zielgerichtete Möglichkeiten zur Eindämmung der Pandemie, aber auch wirksame aktive Maßnahmen bringen. Dazu brauchen wir mehr denn je einen kühlen Kopf, Vernunft und kritisches Denken sowie die Fähigkeit der Kooperation.
Literatur
[1] Chun Siong Soon, Marcel Brass, Hans-Jochen Heinze, John-Dylan Haynes: Unconscious determinants of free decisions in the human brain; Nature Neuroscience (2008), Volume 11, No. 5
[2] Christian Morgenstern: Die unmögliche Tatsache; aus: Alle Galgenlieder; Diogenes Verlag (1981), S. 163–164
[3] Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit; Pantheon Verlag, München, ISBN 978-3-641-10498-6
[4] John Forbes Nash: Non-cooperative games; Dissertation, Princeton University 1950
[5] Mahesh Jayaweera, Hasini Perera, Buddhika Gunawardana, Jagath Manatunge: Transmission of COVID-19 virus by droplets and aerosols: A critical review on the unresolved dichotomy; Environmental Research (2020) 188
[6] Paul Dabisch, Michael Schuit, Artemas Herzog, Katie Beck, Stewart Wood, Melissa Krause, David Miller, Wade Weaver, Denise Freeburger, Idris Hooper, Brian Green, Gregory Williams, Brian Holland, Jordan Bohannon, Victoria Wahl, Jason Yolitz, Michael Hevey, Shanna Ratnesar-Shumate: The influence of temperature, humidity, and simulated sunlight on the infectivity of SARS-CoV-2 in aerosols; Aerosol Science and Technology (2020), doi: 10.1080/02786826.2020.1829536
[7] Alyssa C. Fears, William B. Klimstra, Paul Duprex, Amy Hartman, Scott C. Weaver, Kenneth S. Plante, Divya Mirchandani, Jessica Ann Plante, Patricia V. Aguilar, Diana Fernández, Aysegul Nalca, Allison Totura, David Dyer, Brian Kearney, Matthew Lackemeyer, J. Kyle Bohannon, Reed Johnson, Robert F. Garry, Doug S. Reed, Chad J. Roy: Persistence of Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 in Aerosol Suspensions; Emerging Infectious Diseases (2020); Vol. 26, No. 9
[8] Neeltje van Doremalen, Trenton Bushmaker, Dylan H. Morris, Myndi G. Holbrook, Amandine Gamble, Brandi N. Williamson, Azaibi Tamin, Jennifer L. Harcourt, Natalie J. Thornburg, Susan I. Gerber, James O. Lloyd-Smith, Emmie de Wit, Vincent J. Munster: Aerosol and Surface Stability of SARS-CoV-2 as Compared with SARS-CoV-1; The New England Journal of Medicine (2020); doi: 10.1056/NEJMc2004973
[9] M. K. Ijaz, A. H. Brunner, S. A. Sattar, Rama C. Nair AND C. M. Johnson-Lussenburg: Survival Characteristics of Airborne Human Coronavirus 229E; J. gen.Virol. (1985) 66, S. 2743-274
[10] Oleg V. Pyankova, Sergey A. Bodneva, Olga G. Pyankovaa, Igor E. Agranovskib: Survival of aerosolized coronavirus in the ambient air; Journal of Aerosol Science 115 (2018), S. 158–163
[11] J. Ma, X. Qi, H. Chen, X. Li, Z. Zhang, H. Wang, L. Sun, L. Zhang, J. Guo, L. Morawska, S. A. Grinshpun, P. Biswas, R. C. Flagan, M. Yao: COVID-19 patients in earlier stages exhaled millions of SARS-CoV-2 per hour; Clinical Infectious Diseases (2020), Table 1, 14–16, https://doi.org/10.1093/cid/ciaa1283
[12] Metropolitan Museum New York; antike Amphore aus Terracotta
[13] Wolfgang Walla: Wie man sich durch statistische Grafiken täuschen lässt; Statistisches Landesamt Baden-Württemberg