Die intelligente Datenauswertung hält Einzug in die Oberflächentechnik. Damit gewinnt auch die Visualisierung von Daten mittels Mixed Reality-Ansätzen immer mehr an Bedeutung. Mixed Reality beschreibt die zunehmende Verschmelzung von digitaler und realer Welt in unterschiedlich starken Ausprägungen. In der Mixed Reality finden sich auch bekannte Ausprägungen wie Augmented Reality und Virtual Reality. Entsprechende Visualisierungsansätze ermöglichen es, die Inhalte aus dem digitalen Zwilling den Mitarbeitern so verfügbar zu machen, dass Entscheidungen direkt in der Produktion unterstützt werden. Erste Anwendungsmöglichkeiten, die das IWF der TU Braunschweig gemeinsam mit dem Fraunhofer IST zur innovativen Visualisierung in der Oberflächentechnik entwickelt hat, zeigen die Leistungsfähigkeit der Technologie.
1 Einführung
Die Ergebnisse intelligenter Datenauswertung sollen Mitarbeitern in Unternehmen so zur Verfügung gestellt werden, dass sie die Wertschöpfungsprozesse möglichst zielgerichtet unterstützen. Einfache Dashboard-Lösungen zur Darstellung von Kennzahlen oder gar direkte Rohdatendarstellungen bieten häufig nur eine eingeschränkte Unterstützung, insbesondere in einem direkten Produktionsumfeld. Einen deutlich höheren Immersionsgrad ermöglichen 3D-Visualisierungen. Vor allem Augmented Reality Visualisierungen erlauben eine auf dem industriellen Kontext basierende Darstellung.
Der vorliegende Artikel bietet einen kurzen Überblick zu Mixed Reality-Darstellungen und zeigt exemplarisch Anwendungsfelder für die Oberflächentechnik. Die anstehenden Entwicklungen in diesem Bereich sind Bausteine für eine Oberflächentechnik 4.0, stellen die Mitarbeiter in den Mittelpunkt und adressieren die gesamte Wertschöpfungskette, von der Produktentwicklung über die Produktion bis hin zum After-Sales-Service.
2 Hintergrund und aktuelle Technologien
Mixed Reality beschreibt die Anreicherung der realen Welt (Realität) mit virtuellen Informationen bis hin zu einem vollständigen immersiven Eintauchen in eine virtuelle Welt (Virtualität). Augmented Reality (AR) beschreibt hierbei die erweiterte Realität und vereint die reale und virtuelle Welt dreidimensional und in Echtzeit durch den Einsatz von entsprechenden Technologien. In Abgrenzung zur Virtual Reality bleibt der Anwender mit allen Sinnen in seiner Umgebung und bekommt zusätzlich computergenerierte Inhalte angezeigt. Dadurch ergeben sich zahlreiche neue Möglichkeiten beispielsweise in der Entscheidungsunterstützung, Qualitätssicherung oder in Lern- beziehungsweise Qualifizierungsprozessen.
Abbildung 1 zeigt unterschiedliche Visualisierungsformen im Realität-Virtualität-Kontinuum. Mobile Endgeräte, welche zusätzliche Informationen über Displays anzeigen, sind bereits technisch ausgereift und für den industriellen Einsatz verfügbar. Sowohl eine direkte Darstellung im Sichtfeld des Nutzers (z. B. Moverio BT-300 von Epson oder Google Glass) ist möglich als auch über Displays mit entsprechend verbundener Kamera (von nahezu allen Smartphones unterstützt).
Abb. 1: Realität-Virtualität-Kontinuum unterstützt Auswahl der Visualisierungsform (basiert auf [1, 2])
Eine holographisch räumliche Visualisierung ist deutlich aufwändiger und die Hardware erfährt zurzeit noch einen starken Entwicklungsschub (z. B. Microsoft Hololens 1 oder 2). Auch hier ist jedoch eine Darstellung mit modernen Smartphones möglich. Semi-immersive Darstellungen entsprechen einfachen Display-Darstellungen, welche schon seit Jahrzehnten Stand der Technik sind. Vollständig immersive Darstellungen mittels Virtual Reality-Brillen sind mittlerweile ausgereift, jedoch befindet sich die Visualisierung hier vollständig in einer virtuellen Welt. Dies ist im Wesentlichen für Planungszwecke hilfreich, jedoch weniger im Produktionsbetrieb beziehungsweise in der direkten Interaktion mit Maschinen und Anlagen.
3 Prototypische Umsetzung für die Oberflächentechnik 4.0
Das Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik IWF der TU Braunschweig und das Fraunhofer-Institut für Schicht- und Oberflächentechnik IST entwickeln eine AR-Applikation für eine Oberflächentechnik 4.0. Exemplarisch ermöglicht eine Applikation, die Schichtdicke von galvanotechnischen Schichten zu visualisieren. Basis hierfür ist eine automatische Röntgenfluoreszenzanalyse (RFA) zur Ermittlung der Schichtdickenverteilung einer galvanischen Zink-Nickel-Schicht auf einem Stahlblech (Abb. 2). Die Schichtdickenverteilung ist unter anderem abhängig von der Bauteilgeometrie sowie von der Positionierung des Bauteils im Gestell und des Abstands des Bauteils zur Anode innerhalb des Elektrolyttanks. Die Visualisierung mittels AR, basierend auf Produkt- und Produktionsdaten, wird in der Zukunft eine Entscheidungshilfe sein, beispielsweise wie eine ideale Kontaktierung erfolgt oder wie das Gestell im Elektrolyttank positioniert werden muss, um eine ideale, reproduzierbare Oberflächenbeschichtung zu erreichen. Im Folgenden wird anhand der Untersuchung der Kontaktierung exemplarisch gezeigt, wie eine AR-Visualisierung ausgestaltet werden kann.
Abb. 2: Kennzeichnung der RFA-Messpunkte auf einem Stahlblech (links); Schichtdickenprofil eines Zink-Nickel-beschichteten Stahlblechs (rechts)
4 Beschichtungsprozess und Datenerhebung
Für die Beschichtung von Stahlblechen aus C75 (100 x 70 mm2) wurde der Zink-Nickel-Elektrolyt Slotoloy ZN 320 von der Dr.-Ing. Max Schlötter GmbH & Co. KG verwendet. Die Bleche wurden vor der Beschichtung bei 60 °C heiß entfettet, dann anodisch entfettet und zum Abschluss in 5%iger Schwefelsäure dekapiert. Die Beschichtung wurde mit einer Stromdichte von 0,5 A/dm2 durchgeführt. Mit steigender Stromstärke wurde eine Schichtdickenzunahme beobachtet. Jedoch verstärkte sich auch der Kantenaufbau – eine erhöhte lokale Stromdichte aufgrund von Feldeffekten führt zu einer erhöhten Schichtdicke an Kanten. Eine Erhöhung der Anzahl an Kontaktierungen konnte den Kantenaufbau deutlich reduzieren. In Abbildung 3 ist auf der linken Seite die Ausgangskontaktierung (I) gezeigt. Im Vergleich dazu ist auf der rechten Seite die variierte Kontaktierung mit zwei zusätzlichen Kontaktierungen jeweils an den Ecken des Blechs (II) dargestellt. In diesem Gestell besaß das Blech zudem einen festeren Sitz. Die Beschichtungen wurden jeweils mit einer Stromdichte von 1,5 A/dm2 durchgeführt. Die ermittelten Schichtdickenprofile sind jeweils unterhalb der Teilbilder I und II der Abbildung 3 aufgeführt.
Abb. 3: Einfluss der Kontaktierung
5 Von der Datenerfassung zur Visualisierung
Das schrittweise Vorgehen bis hin zur Umsetzung der Visualisierung ist in Abbildung 4 dargestellt. Zunächst wurden die aus den Messungen erhobenen Daten interpoliert, um die Lücken zwischen den Messpunkten zu füllen. In der Visualisierung werden Volumenelemente in verschiedenen Höhen genutzt, um in der AR-Visualisierung einen räumlicheren Eindruck für den Betrachter zu bieten. Die Volumenelemente sind als Matrix angeordnet, in diesem Fall mit einer Größe von 20 x 40 Elementen. Die Volumenelemente-Matrix wird durch x- und y-Koordinaten und je einen Wert pro Element bestimmt. In der prototypischen Umsetzung werden die Ergebnisse mit dem Dateiformat CSV in die Applikation importiert und durch entsprechende Prozesse geparst, also für den Computer lesbar gemacht. Für die Visualisierung wird jeder Wert aus der Matrix ausgewertet und entsprechend die Höhe des Volumenelements sowie ein Farbwert ermittelt. Die Kombination aus allen Volumenelementen in der richtigen Anordnung, gepaart mit der mittels QR-Code ermittelten Position der Bleche, ermöglicht eine AR-Visualisierung (Abb. 5).
Abb. 4: Datenfluss von der Messung zur Visualisierung
Abb. 5: AR-Ansicht der beispielhaften Applikation
Die Applikation wurde mit der plattformübergreifenden 3D-Programmierumgebung Unity entwickelt und kann auf verschiedenen Endgeräten (Android, iOS) genutzt werden und führt Anwender durch die Stärken und Schwächen der AR-Hardware. Teure AR-Brillen müssen nicht für jeden Anwendungsfall die beste Lösung sein, insbesondere wenn die Brille über einen längeren Zeitraum getragen werden soll. Eine Visualisierung mittels Smartphone kann in vielen Fällen ausreichen und ist durch die bereits sehr hohe Verfügbarkeit ohne zusätzliche Investitionen in Hardware umsetzbar.
6 Ausblick und Unterstützungsangebote für die Industrie
Am IWF und dem Fraunhofer IST in Braunschweig steht eine umfangreiche Auswahl an Hard- und Software für Entwicklung von Applikationen im Rahmen von Industrie- und öffentlichen Forschungsprojekten zur Verfügung. Als Mitglied im Mittelstand-4.0-Kompetenzzentrum mit uns digital! bietet das IWF für kleine und mittlere Unternehmen insbesondere ein umfangreiches Unterstützungsprogramm hin zu Industrie-4.0-Umsetzungen. Das Fraunhofer IST verfügt über ein breites Spektrum an Verfahren und Schichtwerkstoffen, um die für die jeweilige Aufgabenstellung optimale Prozesskette zu gestalten und damit innovative Funktionen und Funktionalitäten zu realisieren. Darüber hinaus verfügt das Fraunhofer IST über eine sehr gut ausgestattete Analytik und eine umfangreiche Erfahrung in der Modellierung und Simulation sowohl von Produkteigenschaften als auch der zugehörigen Prozesse und Produktionssysteme.
Das BMBF-Projekt SmARtPlaS fokussiert die Integration von Mixed Reality Applikationen für die vorausschauende Wartung in der Galvanotechnik. Einsatzfelder für die AR-Technologie werden aufgezeigt und ein methodisches Fundament für industrielle Anwendungen geschaffen.
Literatur
[1] P. Milgram, F. Kishino: A taxonomy of mixed reality visual displaysl; IEICE Transactions on Information and Systems 12 (1994) 12; S. 1321–1329
[2] M. Juraschek, L. Büth, F. Cerdas et al.: Exploring the Potentials of Mixed Reality for Life Cycle Engineering; Procedia CIRP 69 (2018), S. 638–643; doi: 10.1016/j.procir.2017.11.123
1) TU Braunschweig, Institut für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik, Professur Nachhaltige Produktion und Life Cycle Engineering, Langer Kamp 19b, D-38106 Braunschweig
2) Fraunhofer-Institut für Schicht- und Oberflächentechnik IST, Bienroder Weg 54 E, D-38108 Braunschweig