Dem Geheimnis des Gefüges auf der Spur

Werkstoffe 09. 12. 2018
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Forschungskooperation: Dillinger entschlüsselt die DNA des Stahls

Dem Geheimnis des Stahlgefüges ist eine Arbeitsgruppe der AG der Dillinger Hüttenwerke auf der Spur: Mit einer integrierten Forschungskooperation fördert Europas führender Grobblechhersteller die Erforschung der Mikrostruktur von Spezialstählen. Neu entwickelte ausgeklügelte Analysetechniken und Simulationsverfahren erlauben den Blick in bislang unbekannte Tiefen des Stahlgefüges und auf die für seine Bildung entscheidenden Einflüsse im Produktionsprozess. Das angestrebte Ergebnis ist ein neues Verständnis der Zusammenhänge und damit die Möglichkeit, die Realisierung immer anspruchsvollerer Eigenschaftsprofile extrem belasteter Stähle präzise vorherzusagen und anschließend in die Fertigung von industriellen Produkten umzusetzen. Diese Stahl-Entwicklung 4.0 untermauert die Spitzenposition von Dillinger als Innovationstreiber in der Grobblechproduktion.

In den Fundamenten und Plattformen von Offshore-Anlagen müssen Grobbleche jahrzehntelang Höchstleistung vollbringen. Extreme Einsatzbedingungen wie arktische Temperaturen, hohe statische und dynamische Belastungen machen ihnen dabei das Leben schwer. Mit exzellenten, auf den jewei­ligen Anwendungsfall angepassten Eigenschaften wie maßgeschneiderte Streckgrenze, Zugfestigkeit und Zähigkeit halten die Hochleistungsbleche von Dillinger diesen Dauerbelastungen nachhaltig stand. So begründen Bleche für anspruchsvollste Spezifikationen den Ruf des Unternehmens als einer der weltweiten Qualitäts- und Technologieführer. Um das damit verbundene Vertrauen und auch künftige Anforderungen der Kunden weiterhin auf diesem Niveau zu ­erfüllen, arbeitet das Unternehmen permanent an der Entwicklung von neuen Produkten und innovativen Verfahren entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Neben Produktionsanlagen auf dem neuesten Stand der Technik und führender Verarbeitungskompetenz stehen dafür die umfangreichen F&E-Aktivitäten des Hightech-Stahlherstellers. Durch Entwicklung innovativer Verfahren und Anwendung neuer Erkenntnisse werden regelmäßig die Grenzen des Machbaren ausgelotet und die Herstellung zukunftsweisender Produkte vorangetrieben.

Walzwerk beim Stahlhersteller Dillinger (Bild: Dillinger)

Stranggießanlage CC 6 für die Herstellung hochwertiger Stranggussbrammen (Bild: Dillinger)

 

Einen Schwerpunkt auf der Suche nach neuen, immer noch besseren Lösungen bildet seit 2015 die Forschungskooperation des Unternehmens mit der Universität des Saarlandes (UdS) und dem Material Engineering Center Saarland (MECS). Die dreijährige strategische Partnerschaft mit drei Instituten für Materialwissenschaft und ­Werkstofftechnik wurde mit knapp 1 Million Euro gefördert. Jetzt setzt das Unternehmen diese erfolgreiche Kooperation durch eine Anschlussförderung in gleicher Höhe für weitere drei Jahre fort.

Ziel dieses integrierten Forschungsprojekts ist die systematische Erweiterung des mikro­strukturbasierten Werkstoffdesigns durch gezielte Gefüge- und Eigenschaftsmodel­lierung von Spezialstählen. Die innere Beschaffenheit dieser Stähle ist der ­Schlüssel zur Entwicklung von innovativen Eigenschaftsprofilen. Über das objektive Verständnis der Mikrostruktur und der sie beeinflussenden Parameter kann diese über den entsprechend modifizierten Herstellungs­prozess präzise auf kundenspezifische Rahmenbedingungen eingestellt werden. Um diese Einsicht in die inneren Strukturen kontinuierlich weiter auszubauen, arbeiten die drei beteiligten Lehrstühle der Universität des Saarlandes an der Entwicklung innovativer Analysetechniken, Simulationsverfahren und Materialmodelle. Diese verzahnen sie nicht nur miteinander, sondern auch mit den anwendungsorientierten Forschungsaktivitäten von Dillinger. Per Simulation verknüpfen sie Prozessphasen und Produkt, um so die Mikrostruktur und damit die gewünschten Produkteigenschaften zu modellieren. Die Simulation kann bei der Blechherstellung deutlich schneller als mit realen Versuchen und vor allem exakt reproduzierbar entsprechend realisiert werden. Die Erkenntnisse, über Jahre aufgebautes Wissen sowie per Modellierung und Simulation gewonnene neue Einsichten ermöglichen bislang nicht denkbare Entwicklungssprünge. Mit ihnen kann der Stahlhersteller steigende Kundenanforderungen künftig präziser, flexibler und innovativer als je zuvor beantworten.

Der Werkstoffcharakterisierung und -klassifizierung widmet sich der Lehrstuhl für Funktions­werkstoffe unter der Leitung von Professor Frank Mücklich, der auch die Koordination der Forschungsprojekte übernommen hat. Die Werkstoffbehandlung steht im Mittelpunkt der Forschungen am Lehrstuhl für experimentelle Methodik der Werkstoffwissenschaften, den Professor Christian Motz leitet. Die mechanische Werkstoffmodellierung ist der Forschungsschwerpunkt am Lehrstuhl für Technische Mechanik unter ­Federführung von Professor Stefan Diebels.

Gefüge-Klassifizierung mit ­Methoden des Maschinellen Lernens

Basis für die Verknüpfung von Herstellungsprozess, innerer Beschaffenheit und Produkteigenschaften des Stahls ist die objektive Beschreibung der Mikrostruktur nach Zusammensetzung, Anzahl, Art und Verteilung ihrer Bausteine. Dazu arbeitet das Forscherteam um Professor Mücklich an der Entschlüsselung der de facto grenzenlosen geometrischen Vielfalt des Gefüges auf ­Mikro- und Nanoebene. Um diesen Parametern auf den Grund zu gehen, untersuchen die Wissenschaftler die Gefügestruktur bis ins kleinste Detail. Durch reproduzierbare Kontrastierung machen sie das Gefüge sichtbar und ermöglichen so eine sichere Quantifizierung der Gefügebausteine. Diese bergen die Geschichte des Herstellungsprozesses vom Nanometer- bis Mikrometerbereich. Die entwickelten Analysetechniken erlauben es, den exakten Aufbau der Mikrostruktur darzustellen, also das Gefüge chemisch, kristallo­graphisch und geometrisch abzubilden, auszulesen und objektiv zu bewerten.

Unterschiedliche Mikrostruktur bei Stählen (Bild: Dillinger)

In mechanischen Experimenten untersucht die Forschungskooperation von Dillinger und der Universität des Saarlandes Einflüsse von Parametern wie Wärmebehandlung oder Walztemperaturen auf die Mikrostruktur (Bild: Dillinger)

 

Im Rahmen des ersten Förderprojekts ­wurde zu diesem Zweck das Gefüge in den Oberklassen Ferrit, Perlit, Bainit und ­Martensit kontrastiert, segmentiert und mittels entsprechend entwickelter Data-Mining-Methoden klassifiziert. Die dafür genutzten Daten basierten auf den individuellen Pixel-Umgebungen oder auch speziellen geometrischen Besonderheiten (Morphologievarianten) der untersuchten Gefügebausteine. Mit der zu ihrer systematischen und objektiven Beurteilung ebenfalls entwickelten Aus­wertemethode unter Nutzung von modernen Werkzeugen des maschinellen Lernens können nun 60 Prozent der Stähle automatisiert analysiert und objektiv klassifiziert werden. In dem jetzt angestoßenen Folgeprojekt optimieren und erweitern die Forscher dieses Lehrstuhls das zuvor erarbeitete ­Data-Mining-Konzept, indem sie sich der Untersuchung und Klassifizierung der bainitischen Substrukturen nach ­Gefügeart, Größe und Zusammensetzung widmen. Dazu werden diese Substrukturen in weitere Unterklassen unterteilt, um feinste Gefüge­unterschiede korrekt zu erfassen und zu klassifizieren. Mit dem Ergebnis werden weitere 15 Prozent der Stahlgefüge automatisiert klassifizierbar sein.

Per mathematischem ­Modell zum Idealgefüge

Die Forscher um Professor Motz untersuchen den Einfluss von Parametern wie chemische Zusammensetzung, Wärmebehandlung, Prozesszeiten und Walztemperaturen auf die Mikrostruktur und damit letztendlich auf die mechanischen Eigenschaften durch Methoden der physikalischen Prozesssimulation. Mit mathematischen Modellen beschreiben sie, wie sich das Gefüge der Spezial­stähle während des Produktionsprozesses bei den einzelnen Behandlungsschritten verändert. Basierend auf den Untersuchungen, wie Temperaturunterschiede bei der Verformung oder unterschiedliche Walztechniken Eigenschaften wie Festigkeit beeinflussen, wird die Veränderung der Austenitkorngröße und ­damit die Gefügeentwicklung modelliert.

Im Rahmen des zweiten Förderprojekts wird die Gefügeentwicklung um die Vorgänge beim Fertigwalzen erweitert. Für ausgewählte Legierungskonzepte und Prozessrouten ermöglicht die physikalische Prozesssimulation die Vorhersage und Kontrolle des Austenitzustands während der Prozessschritte. Dafür wird die Simulation um die Betrachtung der Größe einzelner Austenitkörner, ­ihrer Streckung und ihres Verformungszustandes erweitert und damit die Bandbreite der modellierbaren Stähle erheblich erweitert. Die Erkenntnisse werden durch Dillinger in das Walzmodell implementiert, um die Entwicklung der Mikrostruktur im Herstellungsprozess zu steuern. Das so gewonnene Verständnis der Prozessparameter und Einflussfaktoren ist der Schlüssel, um künftig die Prozessparameter optimal auf das vom Kunden gewünschte Eigenschaftsprofil des Stahls einzustellen.

Per Simulation der ­Mikroeffekte zum perfekten Produkt

Die Forscher am Lehrstuhl von Professor Diebels widmen sich der Untersuchung der Korrelation von Gefüge und Eigenschaften bei Dualphasenstählen. Dadurch wird das mechanische Verhalten von neuen Stahlsorten schon während ihrer Entwicklung vorhersagbar. Im ersten Förderprojekt wurde eine Methode entwickelt, um die Fließkurve, also die Entwicklung der Verformung bei Belastung der Stähle, mit einem mathematisch-physikalischen Modell beschreiben zu können. Dieses phasenbezogene, dreidimensionale Modell auf Basis der Gefügeparameter Phasenanteil, -größe, -morphologie und -verteilung bestimmt das makroskopische, mechanische Verhalten.

Im vollautomatisierten innovativen Stahlwerkslabor überprüft Dillinger die neuen Produkte (Bild: Dillinger)

 

Das Folgeprojekt erweitert die Simulation von Mikroeffekten um Effekte von durch die Kornstruktur dominierten Stählen. Dazu ist es notwendig, das bisherige phasenbasierte Modell feiner aufzulösen und kleinere Bereiche sowie deren individuelle Eigenschaften zu berücksichtigen. Voraussetzung hierfür ist die Abbildung der kristallografischen Korn­struktur des Ferrits. Um seine Eigenschaften in Abhängigkeit der Mikrostruktur möglichst exakt vorauszusagen, werden unterschiedliche numerische Verfahren ausgetestet. So wird es möglich, die Verformungen innerhalb eines Korns ebenso wie die Wechselwirkungen mit den Nachbarkörnern zu simulieren. Der permanente Abgleich von Simulation und Experimenten gewährleistet die Zuverlässigkeit dieser Eigenschaftsprognose. Das erlaubt künftig auch, die Fließkurve bei komplexeren Mikrostrukturen vorherzusagen.

Forschungskooperation 4.0 als Gewinn auf der ganzen Linie

Die Zusammenarbeit zwischen dem Stahlhersteller und den Forschungsteams der Universität des Saarlandes erweist sich gleich in mehrfacher Hinsicht als für alle Beteiligten gewinnbringend: Die systematische Erweiterung des mikrostrukturbasierten Werkstoffdesigns erschließt Dillinger ein intelligentes Werkzeug für die Entwicklung und Herstellung von neuen, anspruchsvollen Spezialstählen. Es ergänzt optimal das datenbasierte Stahldesign, welches auf Erfahrungen und Referenzen beruht. Das mikro­strukturbasierte Design ermöglicht dabei die Gestaltung und Realisierung von völlig neuen Eigenschaftsprofilen. Das Verständnis der Mikrostruktur und mikrostruktureller Mechanismen auf Basis neuer, gesicherter Analyse­methoden gestattet dem Stahlhersteller, durch Modellierung und ­Simulation konkrete Eigenschaftsprofile auf ihre Eignung für den Anwendungsfall zu prüfen und alle Produktionsschritte entsprechend zu gestalten. So kann künftig genau definiert werden, wie das Gefüge eines Spezialstahls aussehen muss, um beispielsweise für arktische Einsatz­bedingungen weiterhin bestens ­gewappnet zu sein. Die enge Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis überführt die theoretischen Überlegungen unmittelbar in die Anwendung und umgekehrt fließen Praxis­ergebnisse direkt wieder in die Arbeit der Forscher mit ein.

Werkstoffprobe bei der Zugprüfung: Der bevorstehende Bruch ist durch die Einschnürung der Probe erkennbar (Bild: Dillinger)

 

Nicht zuletzt geht mit dem wissenschaft­lichen Austausch auch ein Transfer der ­Köpfe einher. Zahlreiche Absolventen und Doktoranden der Universität des Saarlands arbei­ten heute bei Dillinger und treiben so die permanente Innovation bei dem Stahlunter­nehmen für die Hightech-Produkte auch weiter voran. So wird mit dieser strategischen Forschungskooperation und digitalen Produktentwicklung die europaweit führende Rolle als Grobblechhersteller konsequent ausgebaut.

AG der Dillinger Hüttenwerke

Seit über 330 Jahren lebt Dillinger seine Leidenschaft für Stahl, wobei stets die Betrachtung des Werkstoffs Stahl vom Erz bis zum maßgeschneiderten Grobblech und einbaufertigen Element im Vordergrund steht. Ein breites Erfahrungsspektrum, eine starke Forschung und Entwicklung, kontinuierliche Investitionen und eine vernetzte Innovationsfähigkeit machen den Grobblechhersteller zu einem der Qualitäts- und Technologieführer, dessen Stahlgüten mehrheitlich jünger als zehn Jahre sind. Mit diesen Hochleistungswerkstoffen für Einsätze, die unter widrigsten Bedingungen extreme Belastbarkeit erfordern, gehören die Geschäftsbereiche für Stahlbau, Maschinenbau, Offshore, ­Offshore-Windkraft, Linepipe, Baumaschinen, Bergbau oder Kesselbau zu den bevorzugten Partnern der Branchen.

  • www.dillinger.biz

Text zum Titelbild: In der Forschungskooperation mit der Universität des Saarlandes werden die Mikrostrukturen und Eigenschaften des Stahls untersucht und präzise vorhersagbar gemacht (Bild: Universität des Saarlandes)

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