Das Ur-Kilogramm, auf das alle Waagen kalibriert sind, verliert an Gewicht. Internationale Bemühungen streben an, die Basiseinheit der Masse neu zu definieren und künftig auf Naturkonstanten zu beziehen. Hierfür wird im sogenannten Avogadro-Experiment bestimmt, wie viele Atome in nahezu perfekten Siliziumkugeln enthalten sind. Fraunhofer-Forschern ist die homogene Beschichtung der Kugeloberfläche gelungen – unter anderem lässt sich dadurch die Messunsicherheit auf einen Bereich unter zehn Mikrogramm begrenzen.
Ein Kilo ist nicht mehr 1000 Gramm schwer. Denn das Maß der Gewichte, das Ur-Kilogramm, wird immer leichter. Die Ursache dafür ist unbekannt. Um von dem Zylinder, der in Paris in einem Tresor gelagert wird, unabhängig zu werden, suchen Forscher weltweit nach Alternativen. Geplant ist, das Kilogramm neu zu definieren. Künftig soll eine physikalische Konstante das materielle Kilogramm ersetzen.
Um dies zu realisieren, führt ein Team der PTB, Physikalisch-Technische Bundesanstalt, Experimente mit Kugeln aus isotopenangereichertem Silizium durch, die als neuer Kalibrierstandard verwendet werden könnten. Dabei bestimmen die Experten die Avogadro-Konstante, welche die Anzahl der Atome in einem Mol angibt. Wir errechnen die Anzahl der Atome in einer Kugel und erhalten über mathematische Gleichungen die Zahl der Atome pro Mol. Vereinfacht gesagt finden wir heraus, was ein Siliziumatom wiegt und können im Umkehrschluss berechnen, wieviel Siliziumatome für ein Kilogramm erforderlich sind, erläutert Dr. Ingo Busch, Physiker an der PTB in Braunschweig. Das Mol ist der Mittler zwischen der atomaren Massenskala und dem Kilogramm.
Beim Herstellen der Kugeln, was ebenfalls an der PTB erfolgt, bildet sich eine natürliche Oxidschicht aus Siliziumdioxid, SiO2. Diese hat ebenfalls Einfluss auf Masse und Volumen der Siliziumkugeln. Das Problem: Die native Schicht wächst langsam und zum Teil ungleichmäßig. Dadurch lässt sich das tatsächliche Gewicht sowohl der Oxidschicht als auch der Kugel sehr schwer messen. Gefragt ist daher eine alternative, homogene Beschichtung, um Messunsicherheiten zu verringern und Volumen und Masse der Kugel präzise bestimmen zu können.
Alternative SiO2-Schicht minimiert Messunsicherheiten
Forschern des benachbarten Fraunhofer-Instituts für Schicht- und Oberflächentechnik IST ist es gelungen, eine Siliziumkugel mit einer solchen alternativen SiO2-Oberfläche zu beschichten, deren Beschaffenheit höchsten Anforderungen genügt. Mit unserem Verfahren können wir eine SiO2-Schicht mit definierter Rauheit und einstellbarer Schichtdicke auf die Kugel aufbringen, sagt Tobias Graumann, Wissenschaftler am IST. Die Schicht sei darüber hinaus stöchiometrisch. Dies bedeutet nach seinen Worten, dass das Verhältnis der einzelnen Atome untereinander beziehungsweise das Verhältnis zwischen Silizium und Sauerstoff konstant ist.
Als Beschichtungsverfahren wählten die IST-Forscher die Atomlagenabscheidung ALD, kurz für Atomic Layer Deposition. Der Vorteil der Methode: Eine reproduzierbare, extrem dünne Oxidschicht mit homogener Dicke kann auf der Kugel aufgebracht werden. Potentielle Verunreinigungen wie Kohlenstoff oder Stickstoff liegen unterhalb der Nachweisgrenze. Die Rauheit der Schichten bleibt unter einem Nanometer. Die Rauheit der Kugel wird laut Graumann durch die Beschichtung nicht nennenswert erhöht. Dies sei ein Faktor, damit die Messunsicherheit zehn Mikrogramm nicht überschreite. Ein Fingerabdruck wiege bereits mehr. Auch der Zeitfaktor spielt eine wichtige Rolle. Der Fertigungsprozess der Kugeln lässt sich durch den Auftrag der alternativen SiO2-Oberfläche beschleunigen, da das Wachstum der nativen Oxidschicht mehrere Monate dauert.
In Reinraumatmosphäre beschichten
Die am Institut installierte ALD-Beschichtungsanlage wurde eigens für das Projekt aufwändig angepasst und vorbereitet, sodass alle Arbeiten zur Beschichtung in Reinraumatmosphäre stattfinden konnten. Der Fokus der jahrelangen Forschungsarbeiten lag unter anderem auf der Halterung der Siliziumkugel im Reaktor. Da die Kugel vollflächig beschichtet werden muss, haben sich die Forscher für eine Dreipunktauflage entschieden, sprich das Messobjekt liegt an drei Punkten auf. Hier machen sich die Forscher die Wirkungsweise der ALD zunutze: Die gasförmigen Chemikalien diffundieren idealerweise zwischen Kugel und den drei Kontaktflächen der Halterung, die somit ebenfalls beschichtet werden.
Beschichtungsprozess am Fraunhofer IST
Die Schichtbildung erfolgt über die chemische Reaktion zweier Ausgangsstoffe, die nacheinander in die Reaktionskammer eingelassen werden. Diesem Prinzip folgt auch der Beschichtungsprozess am Fraunhofer IST: Um die SiO2-Schicht zu erzeugen, verwenden Tobias Graumann und sein Team im einfachsten Fall zwei Chemikalien, die in getrennten Schritten in Gasform in die Beschichtungskammer gegeben werden. Es kommt zu zwei aufeinanderfolgenden, sich begrenzenden Oberflächenreaktionen. Im ersten Schritt wird die Oberfläche in der Kammer reaktiven Molekülen in der Gasphase ausgesetzt. Beim Reagieren mit der Oberfläche bildet sich zunächst nur ein Zwischenprodukt – eine erste Monolage. Die überschüssigen Moleküle und entstandenen Nebenprodukte spülen die Forscher mit Stickstoff aus der Kammer – so lässt sich eine Überdosierung vermeiden, die Reaktionen werden voneinander getrennt. Die zweite Chemikalie wird in die Kammer eingelassen und reagiert mit dem Zwischenprodukt. Dabei bleibt das gewünschte Beschichtungsprodukt auf der Oberfläche zurück. Ist diese Reaktion auf der ganzen Oberfläche erfolgt, können weitere Chemikalien nicht mehr an der chemisch gesättigten Oberfläche anhaften. Experten sprechen daher von einem selbst kontrollierten, leicht steuerbaren Wachstum, das die ALD auszeichnet. Dieser Reaktionszyklus kann beliebig oft wiederholt werden, um so die gewünschte Schichtdicke einzustellen.
Ausblick in die Zukunft
Die Beschichtungen der Siliziumkugel sind beendet, aktuell finden die Messungen an der PTB statt. Die Ergebnisse sollen diesen Sommer vorliegen und auf der Konferenz für Maß und Gewicht im Herbst 2018 vorgestellt werden. Spätestens dann soll das Ur-Kilogramm als Standard abgelöst werden. Auf dem metrologischen Treffen wird über die Neudefinition des Kilos entschieden.
Die Forscher vom Fraunhofer IST und ihre Kollegen von der PTB hoffen, dass sich die Siliziumkugeln als neuer Kalibrierstandard durchsetzen werden. Metrologieinstitute und Kalibierlaboratorien sollen künftig die Möglichkeit erhalten, Kopien der Kugeln zu erwerben. Die PTB will drei preislich und qualitativ unterschiedliche Varianten anbieten.
Die am Fraunhofer IST entwickelten SiO2-Schichten lassen sich nicht nur auf Kugelsysteme, sondern auf beliebig komplex strukturierte Oberflächen aufbringen. Die Einsatzbereiche sind vielfältig und reichen von optischen Anwendungen über den Halbleiter- und Elektronikbereich bis hin zur Photovoltaik.
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