Ein großer Schritt: Millionenförderung für realistische Werkstoffsimulation

Werkstoffe 06. 09. 2015
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Europäischer Forschungsrat fördert Max-Planck-Projekt mit 1,5 Millionen Euro

Der Europäische Forschungsrat fördert Dr. Blazej Grabowski, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Eisenforschung (MPIE), mit 1,5 Millionen Euro für einen Zeitraum von fünf Jahren für sein Projekt Time-Bridge (übersetzt: Zeitbrücke). Grabowski leitet zusammen mit seinem MPIE-Kollegen Dr. Cem Tasan die Gruppe Adaptive Strukturwerkstoffe. Bei dem jetzt bewilligten Forschungsprojekt geht es um die Entwicklung von neuartigen Simulationsmethoden, die es in Zukunft erlauben, Materialeigenschaften, wie beispielsweise­ die Festigkeit, kontrolliert zu optimieren. Grabowski plant mit einer neuen theoretischen Herangehensweise Fortschritte auf diesem Gebiet zu erzielen, indem er ein grundsätzliches Verständnis der zeitlichen Abläufe auf der Nano- bis hin zur Makroskala innerhalb des Materials schafft. Unterstützt wird er hierbei von einem experimentellen Expertenteam um Dr. Christoph Kirchlechner, Leiter der Gruppe Nano-/Mikromechanik von Materialien am MPIE.

Die Eigenschaften von Materialien hängen von ihrer atomaren Struktur und deren­ Dynamik ab. Dabei weisen die meisten­ Werkstoffe Defekte auf, die beides kritisch beeinflussen. So wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass die theoretische Festigkeit eines Materials nicht erreicht werden kann, da diese erst bei perfekten Strukturen existiert. Experimente haben aber gezeigt, dass diese Annahme falsch ist; auf der Nanometerebene lassen sich zuvor unerreichte Festigkeiten, die bis an die theoretische Grenze herangehen, nachweisen. Diese aus wissenschaftlicher Sicht höchst spannenden Ergebnisse sind allerdings noch nicht ausreichend verstanden, um sie industriell umsetzbar zu machen. Weitere Fortschritte sind nur durch den Einsatz von komplementären Simulationsmethoden möglich, die ihrerseits aber bisher unter dem sogenannten Zeitskalen­dilemma litten.

Mit speziellen Methoden simulieren die Materialwissenschaftler mehrere Millionen Atome, um die Wechselwirkungen der ­Defekte und somit die Einflussfaktoren auf bestimmte Eigenschaften eines Materials, wie die Festigkeit, zu verstehen. Hierbei stoßen sie auf das Zeitskalendilemma: Die Atome in einem Material sitzen nicht auf festen Positionen, sondern vibrieren mit extremen Geschwindigkeiten um ihre Plätze. Mit gegenwärtigen Computersimulationen können die Wissenschaftler daher­ nur wenige Nanosekunden dieser Dynamik beschreiben. Das ist problematisch, weil die Dynamik der Defekte, wie sie experimentell gemessen wird und wie sie für die Festigkeit des Materials verantwortlich ist, sich im Bereich von Sekunden abspielt. Dieses Intervall zwischen Nanosekunden und Sekunden konnte bisher nicht zufriedenstellend überbrückt werden.

Grabowskis Projekt Time-Bridge will genau dieses fehlende und wichtige Zeitintervall mit einer neuen Methode in der Simulation von Atomen beschreiben: der Pseudo­potential-Methode. Diese Methode wird normalerweise zur Bestimmung der Dynamik von Elektronen, das heißt deren Bewegung, benutzt. Hintergrund ist, dass Elektronen, also negativ geladene Elementarteilchen, die Nähe des Atomkerns bevorzugen, um welchen sie kreisen. Gleichzeitig stoßen sich die Elektronen gegenseitig ab, sodass sie den größtmöglichen Abstand voneinander haben. Hierbei bewegen sich die Elektronen nicht überall gleich schnell: In der Nähe des atomaren Kerns sind sie schneller als in dem Bereich zwischen den Atomkernen. Computersimulationen sind dabei durch die schnellste Bewegung im System limitiert. Bei der Elektronendynamik wird dieses Problem durch ein sogenanntes Pseudopotential gelöst, das die Attraktivität des Kerns und gleichzeitig das gegenseitige Abstoßen der Elektronen voneinander erfolgreich imitiert. Grabowski­ will nun dieses Konzept bei der Simulation von Atomen anwenden, um das Intervall zwischen den theoretisch beschreibbaren­ Nanosekunden und den experimentell ­relevanten Sekunden zu überbrücken und damit die Grundlage für die Entwicklung von neuartigen Materialien zu schaffen.

Im Fokus werden zunächst sogenannte Nanopillar-Untersuchungen stehen (Abb.). Hierbei erzeugen die Wissenschaftler kleine atomare Türme, die später zusammengestaucht werden. Diese idealisierten Studien erlauben es, die Wechselwirkung der Defekte untereinander mit hoher Präzision und systematisch zu bestimmen. Die theoretischen Untersuchungen von Grabowski werden von hochgenauen Experimenten mit modernsten Elektronenmikroskopen unter der Leitung von Kirchlechner begleitet. Die enge Zusammenarbeit der Theoretiker und Experimentatoren ist ein wesentliches Merkmal von Time-Bridge, dass die Erfolgschancen des Projekts immens steigert.

Die Förderung des Europäischen Forschungsrats gibt jungen Wissenschaftlern die Möglichkeit, ihre eigene Forschungsgruppe aufzubauen, um somit Talente frühzeitig zu fördern. Als angehende Führungskräfte sollen die geförderten Wissenschaftler europaweit unabhängige Forschung betreiben.

Am MPIE wird moderne Materialforschung auf dem Gebiet von Eisen, Stahl und verwandten Werkstoffen betrieben. Ein Ziel der Untersuchungen ist ein verbessertes­ Verständnis der komplexen physikalischen Prozesse und chemischen Reaktionen dieser Werkstoffe. Außerdem werden neue Hochleistungswerkstoffe mit ausgezeichneten physikalischen und mechanischen Eigenschaften für den Einsatz als High-tech-Struktur- und Funktionsbauteile entwickelt. So verbinden sich erkenntnisorientierte Grundlagenforschung mit innovativen, anwendungsrelevanten Entwicklungen und Prozesstechnologien. Das MPIE wird zu gleichen Teilen von der Max-Planck-Gesellschaft und dem Stahlinstitut VDEh finanziert.-Yasmin Ahmed Salem-

 

Text zum Titelbild: In der Simulation (links) wurde der Nanopillar zusammengedrückt, wodurch die Oberfläche mit charakteristischen Verformungsstrukturen, also Defekten, bedeckt wurde (durch die Linienstruktur erkennbar); im rechten Bild wurde ein analoges Experiment durchgeführt und mit modernsten Elektronenmikroskopen aufgezeichnet. Bisher können die theoretischen und experimentellen Ergebnisse noch nicht vollständig miteinander vereint werden / Bildquellen: linkes Bild: Jongbae Jeon, MPIE; rechtes Bild: Christoph Kirchlechner, MPIE

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