Elektronische Haut

Medizintechnik 08. 06. 2022
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Physikerin der TU Graz entwickelt multisensorisches Hybridmaterial

Die von Anna Maria Coclite entwickelte Smartskin kommt menschlicher Haut sehr nahe: Sie nimmt Druck, Feuchtigkeit und Temperatur simultan wahr und produziert elektronische Signale. Sensiblere Roboter oder intelligentere Prothesen sind so denkbar.

Die Haut ist das größte Sinnesorgan und zugleich der Schutzmantel des Menschen. Sie erfühlt mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig und meldet Informationen zu Feuchtigkeit, Temperatur und Druck an das Gehirn. Für Anna Maria Coclite ist ein Material mit solchen multisensorischen Eigenschaften eine Art ‚heiliger Gral‘ in der Technologie intelligenter künstlicher Materialien. Insbesondere die Robotik und intelligente Prothetik würden von einer besser integrierten, präzisieren Sensorik ähnlich der menschlichen Haut profitieren.

Der ERC-Grant-Trägerin und Forscherin am Institut für Festkörperphysik der TU Graz ist es mittels neuartigem Verfahren gelungen, das Drei-in-Eins-Hybridmaterial Smartskin für die nächste Generation von künstlicher, elektronischer Haut zu entwickeln. Das Er­gebnis dieser Forschung wurde nun im Fach­journal Advanced Materials Technologies veröffentlicht.

Feinfühlig wie Fingerspitzen

Knapp sechs Jahre lang arbeitete das Team im Rahmen von Coclites ERC-Projekt SmartCore an der Entwicklung von Smartskin. Mit 2000 einzelnen Sensoren pro Quadratmillimeter ist das Hybridmaterial feinfühliger als menschliche Fingerspitzen. Jeder dieser Sensoren besteht aus einer einmaligen Materialkombination: einem intelligenten Polymer in Form eines Hydrogels im Inneren und aus einer Schale aus piezoelektrischem Zinkoxid. Das Hydrogel kann Wasser absorbieren und dehnt sich dadurch bei Feuchtigkeits- und Temperaturänderungen aus, erklärt Coclite. Dabei übe es einen Druck auf das piezoelek­trische Zinkoxid aus, das auf diese und auf alle anderen mechanischen Belastungen mit einem elektrischen Signal reagiere.

Das Ergebnis ist ein hauchdünnes Material, das mit extrem hoher räumlicher Auflösung simultan auf Krafteinwirkung, Feuchtigkeit und Temperatur reagiert und entsprechende elektronische Signale abgibt. Die ersten Materialsamples sind sechs Mikrometer dünn, also 0,006 Millimeter, so Anna Maria Coclite. Es ginge aber sogar noch dünner. Zum Vergleich: Die menschliche Oberhaut, die Epidermis, ist 0,03 bis 2 Millimeter dick (Quelle: https://www.netdoktor.at/anatomie/epidermis/). Die Haut des Menschen nimmt Dinge ab einer Größe von etwa einem Quadratmillimeter wahr. Die Smartskin hat eine tausendmal kleinere Auflösung und kann Objekte registrieren, die für die menschliche Haut zu klein sind (etwa Mikroorganismen).

­Materialbearbeitung im Nanobereich

Die einzelnen ­Sensorschichten sind also sehr dünn und gleichzeitig flächendeckend mit Sensorelementen ausgestattet. Möglich war dies nach Angabe der TU Graz in einem weltweit einmaligen Verfahren, für das die Forschenden erstmals drei bekannte Methoden aus der physikalischen Chemie kombinierten: eine chemische Gasphasenabscheidung für das Hydrogelmaterial, eine Atomlagenabscheidung für das Zinkoxid und die Nanoprintlithographie für die Polymerschablone. Für die lithographische Aufbereitung der Polymerschablone zeichnete die Forschungsgruppe Hybridelektronik und Strukturierung unter Leitung von Barbara Stadlober verantwortlich. Die Gruppe ist Teil des in Weiz ansässigen Materials Institute von Joanneum Research.

Dem hautähnlichen Hybridmaterial eröffnen sich nun mehrere Anwendungsfelder: Im Gesundheitswesen beispielsweise könnte das Sensormaterial selbstständig Mikroorganismen erkennen und entsprechend melden. Denkbar sind auch Prothesen, die der Trägerin oder dem Träger Auskunft über Temperatur oder Feuchtigkeit geben, oder Roboter, die ihre Umwelt sensibler wahrnehmen können. Auf dem Weg in die Anwendung punktet Smartskin mit einem entscheidenden Vorteil: Die sensorischen Nanostäbchen – der smarte Kern des Materials – werden mit einem dampfbasierten Herstellungsverfahren produziert. Dieses Verfahren ist in Produk­tionsanlagen etwa für integrierte Schaltkreise bereits gut etabliert. Die Herstellung der Smartskin könnte damit leicht skaliert und in bestehende Produktionslinien implementiert werden.

Die Eigenschaften der Smartskin werden nun noch weiter optimiert: Anna Maria Coclite und ihr Team – hier insbesondere der Dissertant Taher Abu Ali – wollen den Temperaturbereich, auf den das Material reagiert, erweitern und die Flexibilität der künstlichen Haut verbessern.

Originalpublikation:

Taher Abu Ali, Philipp Schäffner, Maria Belegratis, Gerburg Schider, Barbara Stadlober, Anna Maria Coclite: Smart Core-Shell Nanostructures for Force, Humidity and Temperature Multi-Stimuli Responsiveness; Advanced Materials Technologies, https://doi.org/10.1002/admt.202200246

Kontakt:

Anna Maria Coclite, Assoc.Prof. Dr., TU Graz, Institut für Festkörperphysik, E-Mail: anna.coclite@tugraz.at

Text zum Titelbild: Die Smartskin ist ein hauchdünnes Material, das mit extrem hoher räumlicher Auflösung simultan auf Krafteinwirkung, Feuchtigkeit und Temperatur reagiert und entsprechende elektronische Signale abgibt (© Lunghammer/TU Graz)

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