Bestimmung der Oxidschichtdicke am Stent-Werkstoff L605

Medizintechnik 05. 09. 2021

Von Benjamin Gohminger1,2, Falk Stukowski2 und Volker Bucher1

Die zyklische Voltammetrie wird in der Medizintechnikbranche oft dazu verwendet, um das Korrosionsverhalten eines Implantats oder dessen Anfälligkeit gegenüber Korrosion zu ermitteln und zu bewerten [1, S. 2]. Dieses elektrochemische Verfahren wurde hier für die Bestimmung der Oxidschichtdicke von L605 (Kobalt-Chrom-Wolfram-Nickel-Legierung) verwendet. Die Oxidschichtdicke wurde in Abhängigkeit definierter Expositionszeiten an Luft bestimmt, um deren Einfluss auf den Nachfolgeprozess zu bestimmen. Die Untersuchungen legen nahe, dass die endgültige Dicke der Oxidschicht an Luft bei Raumtemperatur innerhalb weniger Sekunden erreicht ist.

1 Hochschule Furtwangen, Fakultät Mechanical and Medical Engineering (MME), Jakob-Kienzle-Straße 17, D-78054 Villingen-Schwenningen

2 Bentley InnoMed GmbH, Lotzenäcker 3, D-72379 Hechingen

1 Einleitung

Bei der Herstellung von Stents aus der Legierung L605 (Kobaltbasis mit 20 % Chrom, 15 % Wolfram und 10 % Nickel) kommt das chemische Ätzen zum Entfernen von Rückständen des Laserschneidens zum Einsatz. Die Oxidschichtbildung auf der Legierung, bezüglich Dicke und Kinetik, an Luft bei Raumtemperatur ist hier von besonderem Interesse. Beim Elektropolieren handelt es sich um einen elektrochemischen Prozess, der einen Materialabtrag vorwiegend an den Rauheitsspitzen aufweist. Daraus resultiert eine glatte, hochreflektierende und gratfreie Oberfläche. Ziel der Untersuchungen war es, den Einfluss der Oxidschicht auf den Elektropolierprozess, genauer gesagt auf die Elektropolierparameter, zu bestimmen. Zu diesem Zweck wurde das Oxidationsverhalten an Luft bei Raumtemperatur betrachtet.

Die unterschiedlichen Intervalle der Exposi­tionszeit an Luft bei Raumtemperatur wurden wie folgt festgelegt:

  • t0: 0 Minuten*
  • t1: 2 Tage
  • t2: 1 Monat

* Da die Untersuchungsmethode CV örtlich nicht in der Nähe der Ätzstation war und zusätzlich die Probeneinspannung für die Messung Zeit beansprucht, konnte die Expositionszeit 0 Minuten nicht realisiert werden. Für t0 wurde daher die Bedingung < 10 Minuten festgelegt.

Für die Untersuchung der Oxidschichtdicke wurde das Verfahren der zyklischen Voltammetrie verwendet. Es wurden für jede Expositionszeit fünf Stents untersucht. Zusätzlich wurden zwei Proben mit einer Expositionsdauer von 1 Monat mit einer XPS-Analyse ebenfalls auf die Oxidschichtdicke untersucht. Grund für die Auswahl einer Probe mit 1 Monat Expositionszeit waren die Ergebnisse einer Literaturrecherche für die Oxidschichtbildung von Chrom. In dieser wird beschrieben, dass sich bei Raumtemperatur ein spezifischer Grenzwert der Oxidschichtdicke nach wenigen Sekunden einstellt. Daher ist es bedeutsam, genau zu sagen, dass sich dieser auch nach einer langen Expositionszeit nicht verändert. Des Weiteren konnte mit Hilfe der ausgewählten Proben für die XPS-­Analyse ein Vergleich der berechneten mit der gemessenen Schichtdicke durchgeführt werden.

2 Das Verfahren ­zyklische Voltammetrie

Für das Verfahren zyklische Voltammetrie wird eine Drei-Elektroden-Anordnung verwendet. Zwischen der Referenzelektrode sowie der Arbeitselektrode wird eine über die Zeit veränderte Spannung angelegt, die line­ar zwischen zwei definierten Grenzen variiert. Dies kann in unterschiedlichen Formen realisiert werden und wird als Scan Mode bezeichnet. In diesem Artikel wird auf den Scan Mode Dreieck eingegangen.

Während der Durchführung einer zyklischen Voltammetrie werden die Elektroden nicht bewegt. Die Messwerte werden in einem Stromdichte-Potential-Diagramm dargestellt. Bei dem Scan Mode Dreieck, dargestellt in Abbildung 1, wird mit dem Anfangspotential Ei (t = 0 Sekunden) gestartet. Dieses wird linear über die Zeit bis zum Umkehrpotential erhöht. Nach dem Durchlaufen des Umkehrpotentials Eu wird das Potential wieder auf das Anfangspotential zurückgefahren.

Abb. 1: Dreiecksspannung-Scan Mode [2, S. 13]

 

Abb. 2: Resultierende Strom-Spannungskurve für eine Oxidation [2, S. 14]

 

Die Strom-Spannungskurve (Abb. 2) beginnt mit dem Ruhepotential E0. Wird das Potential von E0 auf E2 erhöht, beginnt die Oxidation des redoxaktiven Materials. Ebenfalls durch Änderung des Potentials nimmt die Konzentration cred des Reduktionsmittels an der Elektrode ab. Durch die weitere Erhöhung der Spannung sinkt die Konzentration cred der reduzierenden Substanz an der Elektrodenoberfläche bis auf null, parallel dazu steigt der Strom. Der Strom aufgrund der sich ändernden Konzentration cred wird als Diffusionsstrom iD bezeichnet. Die Konzentration cox der oxidierten Komponente an der Elek­trode nimmt stetig zu, da immer mehr Sub­stanz oxidiert wird. Durch das Vorliegen einer ruhenden Lösung erfolgt kein Abtransport, wodurch die Dicke der Nernst‘schen Diffusionsschicht δN entgegen dem Konzentrationsgefälle anwächst. Die Nernst‘sche Diffusionsschicht ist zwischen der Helmholtz-Schicht und der Lösung anzuordnen.

Bei wachsender Diffusionsschicht sinkt der Diffusionsgrenzstrom iD; durch das Ansteigen und Abfallen des Stroms, entsteht ein Strommaximum. E4 wird als Umschaltpotential bezeichnet. Hier wird die Spannungsvorschub­richtung umgekehrt. Die Spannung wird so lange verändert, bis das Ausgangspotential mit dem Startpotential übereinstimmt.

Während der gesamten Messung wird jeweils die Summe aus anodischem und kathodischem Strom in den entstehenden Graphen aufgetragen. An dem Punkt, an dem sich die beiden Ströme aufheben, herrscht ein dynamisches Gleichgewicht. Dies ­bedeutet, dass die Geschwindigkeiten der Oxidation und der Reduktion identisch sind. Aufgrund der verschiedenen Vorzeichen entspricht der Gesamtstrom dort dem Zahlenwert Null. Nach dem Passieren dieses Nullpunkts herrscht ein negativer Strom. Durch das Erniedrigen des Potentials wird die berechenbare Geschwindigkeitskonstante erhöht. Diese würde stetig weiter ansteigen, wenn nicht das Anwachsen der Diffusionsschicht dem entgegenwirkt. Das Resultat daraus ist ein kathodisches Strommaximum. Nach dem Durchlaufen des Maximums sinkt der Strom wieder auf den Wert für das Startpotential. Ein solcher Durchgang wird als Zyklus bezeichnet, aufgrund dessen das Verfahren die allgemein gebräuchliche Bezeichnung zyklische Voltammetrie erhalten hat [2, S. 12–15].

3 Das XPS Verfahren

Um die Messwerte aus der Voltammetrie zu validieren wurde als zweites Verfahren eine XPS-Analyse eingesetzt. Die XPS-Analyse ist eine oberflächenanalytische Methode, mit der alle chemischen Elemente, außer Wasserstoff (H) und Helium (He) bestimmt werden können. Für diese Analyse wird eine Röntgenstrahlungsquelle verwendet. Die Messung wird unter Ultrahochvakuum (10-8 mbar bis 10-10 mbar) durchgeführt. Informationen über die äußeren 10 nm eines zu untersuchenden Materials wird über Aluminium-Kα- oder Magnesium-Kα-Anregung gewonnen. Hierbei werden kernnahe Elektronen aus einem Atom herausgeschlagen, durch die Informationen über chemische Zusammensetzungen, Oxidationszustände und Art der Bindungen erhalten wird.

Die Anregung der Elektronen ist für jedes Element über eine definierte Energie hv charakterisiert. Sie entspricht der Energie, mit der ein Elektron im Atom gebunden ist. Durch das Anregen von Elektronen (Anheben auf höhere Energien) wird ein intraatomarer Relaxationsprozess der Elektronen aus höheren Energieniveaus ausgelöst [5, S. 18–21]. Die Energie, mit der das Atom stabilisiert wird, wird in Form von Röntgenfluoreszenzstrahlung abgestrahlt [3]. Mit Hilfe von Linsensystemen (magnetische und elektrostatische Linsen) sowie einem speziellen Energieanalysator, den nur Elektronen eines bestimmten Energiespektrums passieren können, werden durch eine angelegte, variierbare elektrische Spannung nacheinander alle Energiewerte des Spektrums, welches gemessen werden möchte, abgefahren. Die Energie der auf den Detektor treffenden Elektronen lässt sich mit folgender Formel bestimmen:

KE = hv-BE   <1>

mit: KE – kinetische Energie der emittierenden Elektronen [eV]

hv – eingestrahlte Energie [eV]

BE – Bindungsenergie der Elektronen [eV]

Da die Bindungsenergie elementspezifisch ist, wird ein direkter Elementnachweis ermöglicht. Die Augerelektronenemission stellt einen Alternativprozess dazu dar. Die freiwerdende Energie aufgrund der Relaxation wird nicht grundsätzlich durch Emission eines Photons abgegeben. Die Energie kann auch auf ein anderes Elektron übertragen werden, welches das Atom als sogenanntes Auger­elektron verlässt [4]. Das Übersichtspektrum liefert eine Aussage über die Elementzusammensetzung der Probe. Die bei der Analyse erhaltenen Emissionslinien sind für jedes Element charakteristisch, weshalb die Probe chemischen Elementen zugeordnet werden kann [5, S. 24–25].

4 Berechnung der ­Oxidschichtdicken

Durch die zyklische Voltammetrie kann die gesamte Oxidschichtdicke, dgesamt, die Dicke der nativen Oxidschicht d0 sowie die Dicken­änderung während des Prozesses bestimmt werden. Für die Fragestellung im vorliegenden Fall ist die Bestimmung der nativen Oxidschicht interessant. Diese kann über folgenden Zusammenhang bestimmt werden:

d0 = (φ0 - φox) · kox   <2>

mit: d0 – native Oxidschichtdicke [nm]

φ0 – Durchbruchspotential [V]

φox – Oxidationspotential [V]

kox – Oxidwachstumsrate [nm/V]

Für die Messung mittels XPS-Verfahren wird ein Tiefenprofil durch Sputtern mit Argon­ionen (Ar-Ionen-Sputtering) erstellt. Die Oberfläche der Probe wird dabei sukzessiv abgetragen und in festgelegten Intervallen untersucht [6].

5 Einfluss der Oxidschicht auf den Elektropolierprozess

Für die Beurteilung des Einflusses der Oxidschichtdicke wird die Ladungsmenge Q als relevanter Parameter herangezogen. Der Materialabtrag bei dem Elektropolierprozess wird über die Materialkonstante bestimmt. Diese setzt sich aus dem gemessenen Materialabtrag und der Ladungsmenge zusammen, die in folgender Beziehung zueinander stehen:

Mk = m/Q = m/(I·t)   <3>

mit: Mk – Materialkonstante [mg/C]

m – gemessener Materialabtrag [mg]

Q – Ladungsmenge [C]

I - Strom [A]

t – Abtrags- bzw. Reaktionsdauer [s]

Die zwei berechneten Ladungsmengen, mit- und ohne Oxidschicht, wurden miteinander verglichen. Die prozentuale Differenz dieser Werte wurde genutzt, um den Einfluss der Oxidschichtdicke auf den Elektropolierprozess zu beurteilen. Die Oxidschicht, die mit dem XPS-Verfahren bestimmt worden war, wurde für die Berechnung verwendet.

6 Ergebnisse der Messungen

Die Bestimmung der Oxidschichtdicken für die gewählten Expositionszeiten führte zu folgenden Werten:

t0 = 3,1 nm ± 3,0 nm

t1 = 3,1 nm ± 1,1 nm

t2 = 5,6 nm ± 2,6 nm

Bei diesen Ergebnissen handelt es sich um berechnete Mittelwerte, die mit dem zyklischen Voltammetrie-Verfahren bestimmt worden waren. In Abbildung 3 sind die Oxidschichtdicken in Abhängigkeit zu den unterschiedlichen Expositionszeiten dargestellt. Hier lässt sich ein geringer Anstieg der Oxidschichtdicke in Abhängigkeit der Expositionszeit feststellen. Des Weiteren fällt eine erhöhte Standardabweichung auf. Vermutlich haben elektromagnetische Störgrößen im Laborbereich zu dieser Variation der Messwerte geführt. Der leichte Anstieg der Oxidschichtdicke von anfänglich 3,1 nm auf den Wert von 5,6 nm nach einer Dauer von 1 Monat, was den Literaturangaben widerspricht, lässt sich auf die genannten Störungen zurückführen.

Abb. 3: Oxidschichtdicken für die gewählten Expositionszeiten

 

Die Dicke der Oxidschicht, gemessen mit dem XPS-Verfahren (Expositionsintervall t2), liegt im Bereich von 2,5 nm ± 1 nm bis 3 nm ± 1 nm. Der prozentuale Unterschied der Ladungsmengen, mit und ohne Oxidschicht, beträgt 0,0031 % bis 0,0038 %.

7 Zusammenfassung

Die gefundenen Ergebnisse legen den Schluss nahe, dass sich die Oxidschicht auf einen spezifischen Grenzwert nach ­wenigen Sekunden einstellt. Der spezifische Grenz­wert ist für den gewählten Zeitraum zwischen 10 Minuten und 1 Monat unabhängig von der Expositionszeit bei Raumtemperatur. Dadurch kann ein Einfluss der Exposi­tionszeit an Luft bei Raumtemperatur auf den Elektropolierprozess ausgeschlossen werden. Die mit der der zyklischen Voltammetrie bestimmte Dicke der Oxidschicht beziehungsweise dessen spezifischer Grenzwert beträgt bei Raumtemperatur 3,8 nm ± 2 nm (Mittelwert über die Expositionszeiten). Das Ergebnis der XPS-Analyse zweier Stents, die einer Expositionszeit an Luft von 1 Monat unterzogen wurden, beträgt 2,5 nm bis 3,0 nm ± 1,0 nm. Mit diesem Wert wird der Einfluss auf den Elektropolierparameter, die Ladungsmenge, durch die Oxidschicht berechnet, welcher 0,0031 % bis 0,0038 % beträgt. In Kombination mit dem Ergebnis, dass der spezifische Grenzwert sich an Raumtempe­ratur nach wenigen Sekunden bildet und nicht verändert, kann kein relevanter Einfluss der Oxidschicht auf den Elektropolierprozess festgestellt werden.

Literatur

[1] ASTM F2129, Standard Test Method for Conducting Cyclic Potentiodynamic Polarization Measurements to Determine the Corrosion Susceptibility of Small Implant Devices, F04 Committee, West Conshohocken, PA, USA; 2019

[2] Garcia Angel, Maria de Gracia: Aufnahme und Interpretation der zyklischen Voltammogramme substituierter p-henylendiamine in organischen Lösungsmitteln unter Erfassung der rotonenübertragungsreaktionen mittels Pyridin; Dissertation TU Braunschweig, 2006

[3] M. Alfeld: Was verrät die Röntgenfluoreszenzanalyse?; Online-Beitrag, verfügbar unter: https://www.weltderphysik.de/gebiet/teilchen/licht/synchrotronstrahlung/roentgenfluoreszenzanalyse/roentgenfluoreszenzanalyse/ (Zugriff am: 27. April 2021)

[4] N. N.: Auger-Elektronen-Spektroskopie; Online-Artikel; verfügbar unter: https://www.chemie.de/­lexikon/Auger-Elektronen-Spektroskopie.html (Zugriff am: 27. April 2021)

[5] N. Lange: Selektive chemische Modifikation von Siliziumnitrid-Oberflächen für neuartige biosensorische Applikationen; 2017

[6] P. Schuehle et.al.: XPS-Kurzbericht, NMI, 2021

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