Täglich treffen wir Entscheidungen. Diese münden in Maßnahmen, die ein bestimmtes Ziel realisieren sollen. Doch erreichen wir dieses Ziel direkt? Die meisten dieser Entscheidungen ziehen zahlreiche Konsequenzen nach sich - und ein großer Teil davon unvorhergesehen. Auf diese unerwarteten Konsequenzen muss wieder reagiert werden, was weitere, häufig ungeahnte Folgen nach sich zieht. Je umfangreicher und komplexer das System ist, in dem Maßnahmen getroffen werden, desto öfter sind wir von den Auswirkungen unseres Handelns oder Unterlassens überrascht. Wer kennt nicht die Situation, in der man vom Planer immer mehr zum Getriebenen seiner eigenen Entscheidungen in Projekten oder anderen Vorhaben wird?
Beispiele finden wir täglich, im privaten, ökonomischen, ökologischen und auch gesellschaftlichen Bereich. Es sind immer die Situationen, in denen man leicht die Übersicht verlieren kann.
Nehmen wir die Chemikalienregulierung am Beispiel Nickel. Es ist leicht zu propagieren, dass ein angeblich zu Allergien führendes Metall nicht mehr genutzt werden soll – manche erinnern sich an die abstruse Regel: Nicht mehr als 3 x 10 min in zwei Wochen oder nicht mehr als 1 x 30 min in zwei Wochen berühren – wissenschaftlich kaum zu begründen und in den Folgen offensichtlich massiv unterschätzt. Was ist mit der Handbrause in der Dusche? Was ist mit der Edelstahlspüle? Was mit Schlüsseln, die jeder jeden Tag in der Hand hat? Nickel ist als Legierungsbestandteil und Reinmetall aus der modernen Welt nicht wegzudenken. Sollte Nickel tatsächlich in dieser Art verbannt werden, hätte es Konsequenzen auf das private und soziale Umfeld, die sich jene, die so leichtfertig mit Verboten umgehen, nicht hätten träumen lassen.
Ein anderes Beispiel sind die zahlreichen Ausnahmen von der Biozid-Verordnung, die während der Covid-Monate erlassen werden mussten. Regulierung ist einfach – die Konfrontation mit der Pandemierealität hat sie jedoch innerhalb kürzester Zeit in Frage gestellt, wie mittlerweile auch öffentlich bekannt sein sollte (siehe z. B. D.A.Z., die online Apotheker Zeitung).
Mittlerweile ließ sich die EU-Kommission zur notwendigen Reparatur dieser kurzsichtigen und nicht in ihren weitreichenden Folgen untersuchten Regulierungsmonstern neben vielem anderen einen ganz speziellen Ansatz einfallen: Den sogenannten essential use. Was für die Gesellschaft überlebenswichtig ist, soll erhalten bleiben. Natürlich entscheiden darüber die Kommission und ihre hochgelobten Experten. Doch sind das nicht genau die Leute, die gerade eben diese Reparatur nötig gemacht hatten?
Es wird Zeit für ein Umdenken! Es wird Zeit, dass wir anders denken!
Wie sollen Entscheidungen getroffen werden, wenn mit vielen Nebenwirkungen und Rückwirkungen zu rechnen ist? Lineares, eindimensionales und statisches Denken führt zu Tunnelblick-Maßnahmen der beschriebenen Art; oft mit katastrophalen Folgen. Die unzweifelhaft sinnvollen Ziele werden dadurch gleich von Beginn an verfehlt. Nur durch ganzheitliche Betrachtung aller wesentlichen Folgen in einem gegebenen System können ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit und Stabilität erreicht werden. Und nur dann sind unter Abwägung der unterschiedlichen zu erwartenden Folgen tatsächlich informierte Entscheidungen möglich.
Wir benötigen ganzheitliche ergebnisoffene Ansätze, die nur durch fachübergreifendes Zusammenwirken kompetenter Personen erfolgreich sein können. Und diese kompetenten Personen (die bewusst nicht als über alle Zweifel erhabenen Experten anzusehen sind) müssen sich der öffentlichen Diskussion stellen, sich mit anderen Fachleuten auseinandersetzen.
Es dürfte mittlerweile klar geworden sein, dass die angesprochenen Herausforderungen an unsere gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Systeme nicht durch Einschätzungen fachlich spezialisierter Experten aus Einzeldisziplinen lösbar sind – egal ob Virologe, Klimaforscher oder gar Politiker. Meist werden mehr Probleme aufgeworfen als gelöst. Es braucht Erfahrung im Umgang mit den alltäglichen komplexen Systemen, die sich entwickeln, nur in Tendenzen vorhersagbar und nur interdisziplinär begreifbar sind. Es braucht Menschen, die wissen, dass die Antwort nicht in der Anhäufung immer detaillierterer Daten zu finden ist, denn: Wer von immer weniger, immer mehr weiß, der weiß am Ende alles – von Nichts.
Die TU Ilmenau will zusammen mit dem Zentralverband Oberflächentechnik einen Anfang machen, sich aus dem Blick durch Scheuklappen zu befreien und zu Folgeanalysen zu kommen, die diesen Namen auch verdienen. In einem pilotartigen Workshop über eine Woche sollen Studenten, Industrievertreter, Wissenschaftler und Behördenvertreter den Umgang mit komplexen Situationen erarbeiten. Wichtig ist, diese Situationen zu erkennen, sie konkret anzugehen und ohne unzulässige Vereinfachung zu beurteilen. Die Betrachtungen werden von Beispielen verschiedener Disziplinen ausgehen, unter anderem der elektrochemischen Oberflächentechnik, um sich dann auf weitere Fachbereiche, wie zum Beispiel Betriebswirtschaft oder Energiewirtschaft auszudehnen.
Was wird zur Teilnahme benötigt? Nichts als Offenheit, Unvoreingenommenheit, gesunder Menschenverstand und die Bereitschaft, einmal über den Mainstream-Tellerrand hinaus zu blicken!
- www.zvo.org